■ Pampuchs Tagebuch: Zwei Kilo Jahresendblues
Früher, in den guten alten Charlie-Brown-Tagen, hieß das Phänomen „Post Xmas Letdown“, was mit „nachweihnachtlicher Depressionsphase“ nur unzulänglich übersetzt ist. Jedenfalls erging sich in den herrlichen Schulz-Comics jener Jahre die ganze Gang von Charlie Brown über Snoopy bis zu Sally, Linus und Lucy van Pelt in philosophischen Betrachtungen über diese gottgegebene Phase, von der die Evangelien so bewußt schweigen. Zwischen den Jahren – der merkwürdige Begriff versuchte später das PXL chronologisch zu verorten – erfaßte die Menschen (und auch manche Hunderassen) eine seltsame Leere, die in eklatantem Kontrast zur Fülle in ihrem Bauche stand. Irgendwie war alles eitel und leer, Enttäuschung und Erschöpfung machten sich breit, und viele litten trotz Silvester, Neujahr und Heiligen Drei Königen bis weit in den Januar hinein unter dem geheimnisvollen Syndrom. Weihnachten forderte eben seinen Tribut, und mit Demut betrat man das neue Jahr, wissend um Magendrücken und Nadelausfall, um die Probleme beim Umtausch von Weihnachtsgeschenken und um die Vergänglichkeit des Seins als solchen.
Und heute? Heute ruft man im Zweifelsfall snoopy.com auf und zieht sich die lustigen Peanuts des letzten Monats rein. Oder man probiert die neuen Computerspiele frisch vom Gabentisch aus. Ich beispielsweise spiele das Computerspiel „Skiing“ von „Sierra Sports“, das mir meine amerikanische Nichte geschenkt hat. Da kann ich die großen Pisten dieser Welt von Aspen bis Garmisch in jeder Disziplin runterzischen. Angefeuert von einer vieltausendkehligen Menge und ermuntert von einer Trainerin, die mir ein ums andere Mal zuruft: „You can do better than that!“ oder „Oh, that hurts“, wenn ich auf die Schnauze fliege. Wie und wann soll da noch innere Einkehr stattfinden? Die Zeiten des gepflegten Jahresendblues: vorbei, verweht?
Doch halt! Immerhin hat der Redakteur dieser Seite mir in den Weihnachtstagen gemailt, daß er mit einem – wie er sich kryptisch ausdrückte – „Millennium-Katharh“ zu Bette liege, und angedeutet, dies könne bis in den Januar hinein dauern. Bemerkenswert an dieser Mail ist vor allem die verwegene Ballung zweier Begriffe, die aus uralter Zeit gleichsam mahnend in unsere Jahrtausendendstimmung hineinreichen. Nicht ein Katarrh (vom griechischen „katarrhein“ für „herabfließen“) hat unseren Redakteur ereilt, sondern eine Art großer Reinigungsobsession angesichts des dräuenden Millenniumproblems. Ähnlich der Bewegung der Katharer (griechisch „die Reinen“), die vor nunmehr gut 800 Jahren durch strenge Askese die böse Welt zu überwinden trachteten, scheinen hier und heute viele mit der Computerbranche befaßte Menschen sich in rituellen Kasteiungen auf den zu erwartenden Millenniums-Computer-GAU vorzubereiten. Durch stilles Verharren im Bett oder andere Fluchtbewegungen aus dem Alltag versuchen die Millenniumskatharer (wie auch viele ähnliche Bewegungen in den USA) das – in ihrer eigentümlichen Insidersprache „Y2K“ (Year 2 Kilo) genannte – Doomsday-Szenario emotional wie intellektuell in den Griff zu bekommen. Wie sie dabei genau vorgehen, ob sie erfolgreich sind und wie das alles enden soll, wird sich weisen. Ihre mittelalterlichen Brüder verloren sich irgendwann im Dunkel der Geschichte.
Die oben angemahnte Demut ist den Neuzeit-Katharern jedenfalls nicht abzusprechen. Denn mal ehrlich, was ist ein Post Xmas Letdown gegen eine Millenniumskatharsis? Gerade weil's weh tut – can we do better than that? Thomas Pampuch
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen