Palästinensische Kinder im israelischen Knast: Steinewerfer vor Gericht
Jeden Freitag Steine: auf Soldaten, Autos, Panzer. Dann kommt der Knast - für bis zu 700 palästinensische Kinder und Jugendliche. Verurteilt wird nach Militärrecht.
RAMALLAH taz | Mohammed wirft seinen schmächtigen Körper hin und her, das Gesicht verzogen vor Schmerz und Wut. Der Griff des Soldaten sitzt fest, Mohammed kämpft noch einige Sekunden verbissen weiter, dann hat ihm der Soldat den Arm um die Kehle gelegt - Mohammed gibt auf.
Resigniert lässt sich der 14-jährige Palästinenser mit anderen Verhafteten abtransportieren, während Soldaten Tränengas in die Menge schießen. Mohammed war auf einer der Demonstrationen, die im Westjordanland mindestens jeden Freitag nach dem Mittagsgebet stattfinden.
Demonstrationen gegen die israelische Besatzung, die Beschlagnahmung palästinensischer Grundstücke und Häuser durch die israelische Regierung oder - wie in diesem Fall - Demonstrationen gegen die israelische Mauer, die seit 2003 um das Westjordanland gebaut wird.
Mohammed kommt aus dem Städtchen Beit Ummar nördlich von Hebron. Mit seinen 14 Jahren ist er auf den wöchentlichen Demos nicht einmal der Jüngste. Wie die Großen läuft er mit und ruft Parolen. Vielleicht hat er, wie die anderen Jungen, die israelischen Soldaten auch provoziert, sie angegrinst und ihnen irgendetwas zugerufen.
Steine geworfen habe er aber nicht, beteuert Mohammed. Wegen Steinewerfens saß er aber im Gefängnis. Es ist der häufigste Grund für die Verhaftung minderjähriger Palästinenser durch das israelische Militär. Laut einem aktuellen Bericht der Menschenrechtsorganisation BTselem wurden über 830 Kinder und Jugendliche aus den palästinensischen Gebieten seit 2005 verhaftet und angeklagt, Steine auf Israelis geworfen zu haben.
20 Monate Gefängnis
93 Prozent von ihnen wurden zu Gefängnisstrafen von bis zu 20 Monaten verurteilt. Laut der Kinderrechtsorganisation Defence for Children International (DCI) werden insgesamt rund 700 palästinensische Minderjährige pro Jahr in israelischen Gefängnissen inhaftiert.
Steine werfende Jugendliche sind auf Bildern und Videos rund um den Nahostkonflikt allgegenwärtig. Sie werfen auf Soldaten, Zivilisten, Autos und Panzer. Für viele von ihnen ist es eine Form des politischen Widerstands. Für manche auch nur ein Ventil, um Frust und Aggressionen abzulassen.
Doch Steinewerfen ist keine arabische Erfindung, gerade in den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten werfen auch israelische Jugendliche bisweilen Steine auf Palästinenser oder auf israelische Soldaten und Polizisten. Und hier wird das Dilemma deutlich. Zwar werden auch Israelis zur Rechenschaft gezogen, wenn sie Gewalt anwenden, doch die Rechtsprechung sieht anders aus, je nachdem, welchem Volk der junge Steinewerfer angehört.
Erhebliche Unterschiede
"Israelische Kinder sind unsere Nachbarn in den Siedlungen des Westjordanlandes. Wenn sie Steine auf Soldaten werfen, kommen sie vor das Zivilgericht. Wenn palästinensische Kinder an der gleichen Stelle Steine auf die gleichen Soldaten werfen, kommen sie vor das Militärgericht", bringt Iyad Misk, Anwalt bei DCI in Ramallah, das Problem auf den Punkt. Das israelische Zivilgericht hält sich an die UN-Kinderrechtskonvention, die Israel 1991 wie die meisten anderen Staaten der Welt unterzeichnet hat.
Das israelische Militärgericht hält sich jedoch nicht an diese international anerkannten Kinderrechte. Erhebliche Unterschiede in der Behandlung der Gefangenen gehen damit einher. Ein israelischer Jugendlicher vor dem Zivilgericht gilt beispielsweise erst mit 18 Jahren als erwachsen, ein Palästinenser wird vor einem Militärgericht schon mit 16 als Erwachsener verurteilt.
Das Urteil, das dabei über einen palästinensischen Jugendlichen gefällt wird, richtet sich nach dem Alter zum Zeitpunkt der Verurteilung, nicht danach, in welchem Alter er das Verbrechen begangen hat.
"Das ist gegen jedes legale System der Welt", so Iyad Misk. Ein weiterer Unterschied: Ein Israeli muss innerhalb von 24 Stunden vor einen Richter stehen, ein Palästinenser erst innerhalb von acht Tagen. Das bedeutet häufig eine Woche in Ungewissheit für die Jugendlichen, aber auch für ihre Familien.
Verhaftet wird in der Nacht
Kontakt zwischen Eltern und Kindern ist generell selten, auch wenn ein Minderjähriger über mehrere Wochen in Haft ist. Drei Monate lang durfte der 14-jährige Mohammed seine Familie nicht sehen, obwohl nach der UN-Kinderrechtskonvention jedes Kind in Haft ein Recht auf Familienbesuch hat.
Die Verhaftung und das Verhör sind nach Erfahrung von DCI und der Prisoners Society in Bethlehem die gefährlichsten Situationen für die Jugendlichen. Verhaftungen finden häufig mitten in der Nacht statt: In der Regel umstellen mehrere Soldaten ein Haus, stürmen es und verhaften den vermeintlichen Steinewerfer, ohne dass die Eltern den Jugendlichen begleiten dürfen.
"Zehn Tage nachdem ich Steine auf die Soldaten geworfen hatte, kamen sie morgens um fünf Uhr zu uns nach Hause. Sie haben die Tür mit einer Granate aufgesprengt. Sie haben uns geschlagen", berichtet Ahmed Samra aus Ramallah, der drei Jahre in israelischer Haft war. "Normalerweise weckt dich deine Familie, diesmal waren es 20 Soldaten, die unser Haus umstellt hatten", hat auch Sajjad Awad aus Beit Ummar erlebt.
"Blut im Gesicht"
Folter und Gewalt sind nach israelischem Recht ebenso verboten wie in den meisten anderen Ländern. Laut Abu Mohammed von der Prisoners Society in Bethlehem sieht die Realität anders aus: "Wir haben Zeugenaussagen von Anwälten, die ihre Mandanten mit Blut im Gesicht und gebrochenen Händen im Gefängnis vorfanden - in 20 Prozent der Fälle wird Gewalt angewandt."
Laut DCI berichten sogar 90 Prozent der Jugendlichen von Gewalt oder Drohungen, 5 Prozent auch von der Androhung sexueller Gewalt. "Normalerweise gestehen die meisten Kinder nach einer Stunde bei einer solchen Behandlung selbst Vergehen, die sie gar nicht begangen haben", berichtet Iyad Misk. So ging es Ahmad Samra.
"Ich habe ein Geständnis unterzeichnet, dass ich Molotowcocktails geworfen habe. Sie zwingen dich einfach dazu. Ich war in einem winzigen Raum allein und hatte Angst. Da hab ich es unterschrieben", sagt der magere 20-Jährige, der während seiner Haft 25 Kilo abgenommen hat.
Verurteilt ohne Verteidiger
Ein Anwalt ist bei diesen Verhören selten dabei. "Es ist schwer, Besuche im Gefängnis genehmigt zu bekommen. Daher kommt es häufig vor, dass Kinder keinen Verteidiger haben", sagt Iyad Misk resigniert. Auch das sei ein klarer Verstoß gegen die UN-Kinderrechtskonvention.
Ein weiterer Grund dafür, dass Jugendliche auch Verbrechen gestehen, die sie nicht begangen haben, ist die Dauer der Untersuchungshaft. Nach der Militärrechtsprechung darf sie bis zu sechs Monate dauern - nach israelischem Recht sind es nur dreißig Tage.
"Eine Entlassung auf Kaution wird in 95 Prozent der Fälle verweigert", schätzt Misk. So sind die jungen Angeklagten oft schon während des Prozesses mehrere Wochen in Haft. "Wir sind keine Anwälte, wir sind Händler", sagt Misk hilflos.
Unschuldsvermutung abgeschafft
"Wer Steinewerfen gesteht, bekommt zwei bis drei Monate. Unser Interesse ist das Beste für das Kind. Deswegen sind wir gezwungen, das Kind zum Gestehen zu motivieren, weil es dann kürzer in Haft kommt." So würden die Jugendlichen schon vor der Verurteilung wie Verbrecher behandelt.
"Nach unserer Erfahrung bei DCI ist jeder schuldig, bis die Unschuld bewiesen ist", sagt Iyad Misk. Auch das ist ein Verstoß gegen Artikel 40 der UN-Kinderrechtskonvention, nachdem jeder Angeklagte "bis zum gesetzlichen Nachweis der Schuld als unschuldig zu gelten" hat.
Seelische Schäden
Ob Untersuchungshaft oder nicht, die Zeit im Gefängnis hinterlässt bei den Jugendlichen körperliche und viel häufiger noch seelische Schäden. "Ich wache jetzt jede Nacht um die Zeit auf, als sie mich verhaftet haben", erzählt der 17-jährige Moneer Maaruf und Sajjad berichtet: "Ich hab immer noch Angst. Einmal kamen Soldaten in unser Viertel, da rief ich meine Mutter an, sie soll nach Hause kommen, sie holen mich wieder."
Iyad Misk entschuldigt nicht das Verhalten der Jugendlichen. Steine sind auch Waffen und Steine werfende Jugendliche können gefährlich sein. Was er anprangert, sind die Behandlung der Jugendlichen und die fehlende Alternative zur Haftstrafe. 93 Prozent der Kinder und Jugendlichen, die seit 2005 wegen Steinewerfens verurteilt worden waren, kamen dafür bis zu 20 Monate ins Gefängnis.
Nach der UN-Kinderrechtskonvention darf Freiheitsstrafe "bei einem Kind im Einklang mit dem Gesetz nur als letztes Mittel und für die kürzeste angemessene Zeit angewendet werden". Zwar hat Israel die Kinderrechtskonvention unterzeichnet, sie scheint allerdings nur für israelische Jugendliche, nicht aber für junge Palästinenser zu gelten. "Es müsste gleiches Recht für alle geben", fordert Misk, "es gibt keine Alternative zu gleichberechtigtem Zusammenleben."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles