Palästina: Der Notstand regiert
Präsident Abbas vereidigt in Ramallah eine Notstandsregierung. Derweil berichten geflüchtete Fatah-Mitglieder berichten über Barbareien der Hamas im Gaza-Streifen
Der Notstand regiert
Präsident Abbas vereidigt in Ramallah eine Notstandsregierung. Geflüchtete Fatah-Mitglieder berichten über Barbareien der Hamas im Gaza-Streifen
AUS RAMALLAH SUSANNE KNAUL
Vizeparlamentspräsident Hassan Khreishe schüttelt den Kopf: "Der Begriff Notstandsregierung taucht in unserer Verfassung nicht auf." Zwar könne Palästinenserpräsident Mahmud Abbas von der Fatah-Bewegung das Kabinett auflösen, um dann innerhalb von 30 Tagen dem Parlament eine neue Ministerriege vorzustellen. Die Vereidigung der neuen "Notstandsregierung" ging indes ohne die Zustimmung der Abgeordneten am Sonntag über die Bühne.
Neuer Premierminister ist der unabhängige Salam Fayyad, der gleichzeitig die Posten des Außen- und des Finanzministers übernimmt. Abbas hatte zuvor am Samstagabend das Grundgesetz so weit abgeändert, dass sich eine Zustimmung des Parlaments erübrigte. Auch damit verstoße Abbas gegen das Grundgesetz. "Für eine Verfassungsänderung ist eine parlamentarische Mehrheit von zwei Drittel nötig", erklärt Khreishe, der keiner Partei angehört und nun versuchen wird, wieder Recht und Ordnung ins Parlament zu bringen. Außerdem will Khreishe alles daransetzen, um einen eventuellen Alleingang von Abbas zu verhindern, sollte er einen Friedensvertrag zwischen dem Westjordanland und Israel anstreben, während der Gaza-Streifen außen vor bleibt. "Kein palästinensischer Führer soll wagen, den Gaza-Streifen vom Westjordanland zu trennen."
Seit dem Wochenende sind die beiden palästinensischen Landstreifen politisch zwei unterschiedliche Einheiten. Ismail Hanijeh, der von Abbas geschasste Expremierminister der Hamas, reagiert im Gaza-Streifen, Abbas im Westjordanland. Am Sonntag Mittag rammte der Palästinenserpräsident einen weiteren Pflock ein: Er verbot den militärischen Flügel der islamistischen Hamas, die sogenannten Kassam-Brigaden.
Die aus dem Gaza-Streifen geflüchteten Fatah-Leute zeigen sich ähnlich unversöhnlich wie Abbas ihrem Feind gegenüber. "Ich hatte die Wahl zwischen Flucht und Tod", sagt der Fatah-Abgeordnete Ala Yaghri, der schon vor sechs Wochen telefonische Morddrohungen bekam. Mit erkennbarem Schrecken spricht er über die "Folterer, Diebe und Zerstörer" der Hamas. Jahrelang habe er sich bemüht, Institutionen aufzubauen, und "dann wird innerhalb von wenigen Stunden alles zerstört". Doch trotz der Entwicklungen dürfe der Gaza-Streifen nicht aufgegeben werden. "Ich hätte mir niemals träumen lassen, Gaza zu verlassen."
Dem 43-Jährigen gelang die abenteuerliche Flucht bis zum Übergang Eres und von dort aus via Israel nach Ramallah. "Meine Freunde hatten ein Boot besorgt", erzählt Yaghri, der sich, kaum als er den Strand erreicht hatte, anders entschied, weil "der Seeweg nur in Richtung Ägypten offen war". In einem Auto versteckt, gelang er zur israelischen Grenze. Nun wartet er auf seine Frau und seine sechs Kinder.
Die Hamas habe keine nationale Agenda, sagt Yaghri, für sie spiele allein die Religion eine Rolle. "Was wollen sie denn? Afganistan? Sie werden nie ihren Religionsstaat kriegen." Immer wieder schimpft er über das "barbarische Vorgehen" der Kassam-Brigaden, wobei er einräumt, dass auch die Fatah nicht immer sauber gekämpft habe. Daran seien jedoch die Fundamentalisten schuld. So hätten sie beispielsweise den Körper eines für seinen Widerstandskampf gegen Israel legendären Fatah-Kommandanten misshandelten. "Sie haben auf ihn gepinkelt." Daraufhin seien einige der Leute "ausgerastet". Mit der Hamas sei kein Kompromiss möglich, und das habe auch die eigene Führung zu spät erkannt. Innerhalb der Fatah sei ein grundlegendes Umdenken nötig, früher oder später "muss auch Abbas gehen".
Zahlenmäßig waren die Fatah-Kämpfer im Gaza-Streifen deutlich im Vorteil. Was zur Niederlage führte, war, dass "wir nicht auf einen Krieg gegen unsere eigenen Leute vorbereitet waren. Unser Ziel war die Befreiung von der Besatzung, für die Hamas ist aber jeder ein Feind, der nicht so denkt, wie sie." Ganze Einheiten der palästinensischen Polizei hätten kampflos aufgegeben. "Wenn wir die Lektion aus Gaza nicht lernen, wird sich die Katastrophe im Westjordanland wiederholen", warnt Yaghri.
Ein junger Hauptmann, der aus Sorge um seine in Gaza zurück gebliebene Frau und einen zweijährigen Sohn seinen Namen nicht nennen will, hegt keinen Zweifel daran, dass der "Militärputsch seit Langem vorbereitet war". Ähnlich wie Yaghri unternahm der 30-jährige Geheimpolizist die Flucht, als er sah, dass die Schlacht um das Hauptquartier der "Präventiven Sicherheit" verloren war. Vorher war er Zeuge von acht Hinrichtungen geworden. "Sie riefen um Hilfe. Wir konnten nichts für sie tun." Auch nach der Schlacht hätten die Kassam-Brigaden noch neun seiner Kameraden "die Kehle durchgeschnitten".
Unaufhörlich wippt der Mann mit den Beinen. Der zierliche Oberkörper lässt den Geheimpolizisten so wenig erahnen lassen wie seine klugen Augen hinter der schmalen Brille. Er macht die USA und Europa für die Entwicklungen verantwortlich. "Seit 18 Monaten kriegen wir kein Geld. So etwas hat eine Wirkung auf die Soldaten", schimpft er. Wenn man eine palästinensische Polizei haben wolle, die ihre Arbeit macht, dann müsse man sie auch bezahlen. Die Hamas-Kämpfer im Küstenstreifen "hatten bessere Bedingungen, sie tranken Cola, hatten einen vollen Benzintank und auch die besseren Waffen." Rache interessiere ihn nicht, aber der Gaza-Streifen. "Wenn der Westen hier keinen Al-Qaida-Staat haben will, muss er internationale Truppen schicken."
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