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Pädophilie in der KlosterschuleDie Sehnsucht des Pater S.

Die Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg haben unseren Autor, einen Exklosterschüler, an einen Lehrer erinnert, den er gern vergessen hätte.

Das Berliner Canisius-Kolleg: Schauplatz sexuellen Mißbrauchs von Schülern in den 70er und 80er Jahren. Bild: dpa

BERLIN taz | Vielleicht war es nur Glück, dass wir nicht die Opfer von Pater S. wurden. Opfer eines Mannes mit pädophilen Neigungen. Opfer eines sexuellen Missbrauchs, der so einfach möglich gewesen wäre. Denn wir waren die Schüler von Pater S., er war unser Klassenlehrer in der fünften und sechsten Klasse an diesem Franziskanergymnasium in Süddeutschland Ende der Siebzigerjahre. Es war knapp. Das denke ich heute. Lange Zeit wusste ich nicht, wie knapp es war.

Das Milieu einer Klosterschule in den späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahren war ein ganz spezielles - und vergangene Woche wurde öffentlich, was sich genau in dieser Zeit am Canisius-Kolleg der Jesuiten in Berlin, einer Eliteschule der Hauptstadt, zugetragen hatte. Nach bisherigem Wissen missbrauchten zwei Jesuiten in dieser Zeit mindestens 15 Jugendliche, meist Jungen im Alter von etwa 13 bis 16 Jahren, und das jahrelang und systematisch, wie der heutige Rektor des Gymnasiums, Pater Klaus Mertes, erklärt hat.

Für manche ist an dieser Stelle die Geschichte schon fast vorbei: So ist sie halt, die katholische Kirche. Wo das Zölibat den Geistlichen ein Leben ohne Sexualität abfordert, lockt sie allzu viele Männer an, die mit diesem Grundbedürfnis des Menschen per se Probleme haben und es verdrängen zu können glauben - oder eben solche Männer, die im Laufe ihrer Jahrzehnte als Ehelose eine gestörte Art von Sexualität entwickeln, die ihre scheinbare Erfüllung nur in einem Verbrechen an Kindern und Jugendlichen findet.

Das aber wäre nur die eine Hälfte der Geschichte. Denn fairerweise sei erwähnt, dass sich die katholische Kirche in Deutschland seit Jahren zumindest in ihrer Spitze ernsthaft darum bemüht, pädophile Übergriffe durch Geistliche zu verhindern und zu ahnden. Und auch der Rektor des Canisius-Kollegs engagiert sich, so scheint es bisher, offensiv für die Aufklärung der nun öffentlich gewordenen Missbrauchsfälle, obwohl sie lange vor seiner Zeit an diesem Gymnasium geschahen und das alles, so oder so, dem Ruf seiner Schule schaden wird. Das ist ehrenwert. Ein Happy End aber wird es nicht geben.

Bei Pater S. dagegen gab es das schon. Zumindest ein halbes.

Pater S. war ein drahtiger, etwas schlaksiger Mann, der in seiner braunen Franziskanerkutte immer ein wenig zu versinken schien. Als wir, etwa zehn Mädchen und zwanzig Jungen, ihn in der fünften Klasse an der für uns alle neuen Schule am Waldrand zum Klassenlehrer bekamen, war er kurze Zeit so etwas wie ein Held für uns: mit Ende 20, Anfang 30 relativ jung, dynamisch, ja brennend vor pädagogischem Eifer. Er war Mathematiklehrer und brachte uns meiner Erinnerung nach mühelos ziemlich schnell ziemlich viel bei.

Das allerdings zu einem Preis, der uns alle später erschaudern ließ. Pater S. hatte uns einen fast militärisch anmutenden Drill beigebracht, durch Autorität, aber auch durch Begeisterungsfähigkeit, die er uns zugleich vermitteln konnte. Als einmal während seines Unterrichts eine, sagen wir, lässigere 68er-Lehrerin in unseren Klassenraum hineinplatzte, sprangen wir wie ein Mann auf und riefen: "Guten Morgen, Frau O…!" Ich erinnere mich, dass sie kurz irritiert wirkte - und später erzählte sie einigen von uns, dass sie sich durch unser militärisches Aufspringen kurzzeitig veräppelt gefühlt habe. Wir dachten uns aber gar nichts dabei, das hatten wir bei Pater S. schlicht so gelernt.

Äußerlich betrachtet kamen wir fast alle aus mehr oder weniger unproblematischen Mittelstandsfamilien, oft ziemlich spießig und konservativ - aber zumindest von unserer sozialen Herkunft her brachten wir wenig Sprengkraft mit in die Schule. Da fiel das Unterrichten nicht so schwer, zumal wir eine Schülergeneration waren, der in der Regel eher Autoritätsgläubigkeit vom Elternhaus eingebläut worden war als Widerspruchsgeist. Dazu kam der immense Druck, den Pater S., mal offener, mal subtiler, aufbauen konnte. Wir hätten damals in unserer Naivität für unseren so geliebten wie gefürchteten Klassenlehrer eine Menge getan.

Zugleich gab es jedoch eine Seite an Pater S., die vielen von uns schon damals unangenehm war, denn der Mann, das spürten wir schon ein wenig, hatte etwas unglaublich Verkrampftes, ja Hysterisches, das wir damals aber kaum so hätten benennen können. Ich erinnere mich, dass er einem Mitschüler im Unterricht, zunächst im Überschwang und aus Spaß, mit einem Feuerzeug die Haare im Nacken ankokelte - bis der, erst mitlachend, vor Schmerzen schrie. Das Rauchen war übrigens das einzige Laster, das sich Pater S. erlaubte.

Einmal teilte Pater S. allein mit seinen großen starken Händen vor unseren Augen einen kleinen festen Apfel, was uns einigermaßen beeindruckte. Das war typisch für ihn: Die Show war zugleich eine Machtdemonstration. Der Druck, den Pater S. aufzubauen verstand, war so groß, dass wir in den Pausen nach seinem Unterricht häufig einfach im Dutzend aufeinandersprangen, um unsere verdrängte oder angestaute Wut abzubauen. Und es ist kein Zufall, dass unsere Klasse nach den zwei Jahren bei Pater S. zu den schwierigsten und lautesten gehörte, die die Schule für ein paar Jahre zu ertragen hatte - es war eine Art Befreiung. Und, ehrlich gesagt, hat das auch viel Spaß gemacht.

Später erfuhren wir von einem anderen Lehrer, der bedeutend entspannter war als Pater S., dass dieser in der Schulzeit, ebenfalls bei Patres, allerdings eines anderen Ordens, in seiner Klasse ein Außenseiter war, der hart gemobbt wurde, wie man das heute nennen würde. Einmal, so erzählte dieser Lehrer mit einem Glucksen, sei der spätere Pater S. als Schüler das Opfer einer gemeinsamen Schneeballattacke seiner Mitschüler, alles Jungen natürlich, geworden - und habe mit ausgebreiteten Armen im Schneeballregen gebetet: "Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun." Dass Pater S. als Erwachsener wohl den Schutz des gewohnten Milieus suchte und den Druck weitergab, den er selbst erfahren hatte, liegt auf der Hand.

Und dann war da noch die Geschichte mit der Sexualität: Davon bekamen wir eigentlich kaum etwas mit, denn dieses Thema war uns damals noch ziemlich fern. Später aber erfuhren wir, dass Pater S. zu Frauen ein mehr als verkrampftes Verhältnis hatte. Er soll bei Wandertagen, die mit Schülern und Eltern stattfanden, regelrecht die Flucht ergriffen haben, wenn eine Mutter es wagte, ihn anzusprechen.

Dieser Krampf Frauen gegenüber war bei den Patres unseres Gymnasiums eher unüblich. Von den etwa 100 Lehrerinnen und Lehrern der staatlich anerkannten Privatschule waren knapp zehn Franziskaner. Abgesehen davon, dass mindestens zwei von ihnen Affären mit Lehrerinnen anfingen, wie wir später erzählt bekamen - die Franziskaner an unserer Schule waren, dem Zeitgeist folgend, eher liberal. Das gilt übrigens traditionell auch für Jesuiten. Manche "unserer" Patres hätte man sogar als links bezeichnen können, wie überhaupt die Franziskaner in ihrer Geschichte und bis heute als Orden der Armen seit Franz von Assisi diese soziale, sozialistisch angehauchte Tradition hochhielten und -halten. (Der brasilianische Befreiungstheologe Leonardo Boff war Franziskaner - und für einige an unserer Schule, Lehrer und Schüler, ein ferner Star.)

Pater S. aber war aus einem anderen Holz - und eines Tages mitten im sechsten Schuljahr einfach weg. Er sei überarbeitet gewesen, habe einen Nervenzusammenbruch erlitten, wurde uns Schülerinnen und Schülern erzählt. Und das glaubten wir lange Jahre ohne Mühe, passte es doch zu dieser manischen Persönlichkeit. Erst nach dem Abitur erfuhr ich die wahre Geschichte: Pater S. hatte einem Mitbruder offenbart, dass er pädophile Fantasien habe. Es soll bloß bei Fantasien geblieben sein. Pater S. wurde sofort aus dem Schuldienst entlassen.

Pater S. mag man zugute halten, dass er womöglich selbst mit seinem Geständnis in der Beichte die Notbremse zog, ehe er seinen Gedanken Taten folgen ließ, was leicht gewesen wäre. Und den Patres in der Schulleitung ist hoch anzurechnen, dass sie das Beichtgeheimnis ziemlich flexibel auslegten und das Problem zumindest nicht verdrängten oder auszusitzen versuchten, was - siehe der jüngste Fall in Berlin - ja auch eine Strategie gewesen wäre, wenn auch eine dumme und schädliche.

Jahre nach dem Abitur trafen mein Bruder und ich per Zufall noch einmal auf Pater S. Er war nun in einem Seniorenheim fern der Schule in der Altenseelsorge eingesetzt, was eine tragikomische Note hat. Er sah noch genauso aus wie früher, hatte immer noch etwas Jugendliches, aber auch die gleiche verkrampfte Art.

Wir sprachen nicht darüber, was damals passiert war, oder gar darüber, was hätte passieren können. Pater S. schien nicht unglücklich zu sein, aber das mag auch Show gewesen sein. Er hatte uns beide sofort erkannt, unsere Namen noch parat und bat uns zum Abschied fast hysterisch lachend, liebe Grüße an unsere Eltern auszurichten. Ich kann mich nicht erinnern, dies getan zu haben. Gott sei Dank war ich fertig mit ihm.

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11 Kommentare

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  • R
    Renczes

    Eine Traum(-a)-Story oder „die verlorene Ehre des Pater S.“

     

    Sehr geehrter Herr Philipp Gessler,

     

    leider komme ich erst jetzt dazu, Ihnen mein Mitleid zu Ihren traumatischen Erlebnissen an einem „Franzsikaner-Gymnasium in Süddeutschland“ auszudrücken, da ich erst vor wenigen Tagen von Ihrer Traum(-a)-Story in der TAZ vom 01.02.2010 erfuhr. Mir fällt schwer, dieses Mitleid zu formulieren, da ich selbst 9 Jahre diese Schule besucht habe und besagten Pater S. so ganz anders erlebt habe, nämlich als einen überaus engagierten, intelligenten und liebenswerten Lehrer, dessen Tätigkeit ich sehr schätzte und dessen Weggang von der Schule von mir und vielen sehr bedauert wurde. Aber natürlich werden Institution und Person unterschiedlich und subjektiv wahrgenommen.

    Jenseits jeglicher Subjektivität ist aber die Bewertung Ihres Journalismus. In Ihrem Artikel „arbeiten“ Sie mit subtilen Unterstellungen und dubiösen Andeutungen, die suggerieren wollen, Pater S. habe „pädophile Fantasien“ gehabt. Kein einziges Faktum, nur plumpe Unterstellungen, mit denen Sie auf einer medialen Woge reiten und auf die vermeintliche Zustimmung Ihrer Leserschaft hoffen.

    „Wir sprachen nicht darüber, was damals passiert war, oder gar darüber was hätte passieren können …. „

    Der Gipfel des investigativen TAZ-Journalismus ist das ungeprüfte Zitieren eines „offenbarten Beichtgeheimnisses, nach dem er selbst mit seinem Geständnis die Notbremse zog“.

    Sie stellen ohne jeglichen Beweis eine Parallele her zwischen den im Anfang Ihres Artikels nachgewiesen schlimmen Mißbrauchsfällen und vermeintlichen Ereignissen an Ihrer eigenen Schule vor über 30 Jahren. In Ihrer öffentlichen Abrechnung („Gott sei Dank war ich fertig mit Ihm“) lassen sie jegliche journalistische Verantwortung auf der Strecke. Man nennt dies gemeinhin auch Rufmord .

    „Die verlorene Ehre des Pater S …“ – dieses Thema wurde schon einmal aus sehr berufenem Munde bearbeitet. Da Sie es in diesem, wie auch in anderen Werken aus Ihrer Feder („Diese Ausstellung ist ein Skandal“, P. Gessler ,TAZ vom 23. Januar 2009 ), mit sauberen Recherchen nicht so genau nehmen, erlaube ich mir den Hinweis zum Nachlesen: siehe Böll 1974.

    An der Kreuzburg ist trotz Nachforschungen bis heute nach derzeitigem Ermittlungsstand kein Verdacht auf einen Mißbrauch erhärtet worden.

    Diesbezüglich kann man der Schule kein Versagen vorwerfen, wohl aber, dass diese es offensichtlich nicht geschafft hat, einigen Schülern ein Minimum an intellektueller Redlichkeit oder doch zumindest Fairness zu vermitteln.

     

    Es grüßt Sie Ihr ehemaliger Mitschüler

     

    Dr.med. Johannes Renczes

  • CC
    Christiane Colhoun

    Lieber Philipp,

     

    Du hast in Deinem Artikel die psychische Auffälligkeit beschrieben, die Du Pater S. attestierst und damit die Möglichkeit von Kindesmissbrauch beinahe zur Wahrscheinlichkeit erhoben.

    Ist in diesem Fall nicht alles richtig gemacht worden? Pädophilie ist, leider, weit verbreitet. Ist es nicht richtig, einem Mann, der seine Neigungen bekennt, die Nähe zu Kindern und die Autorität über Kinder möglichst zu entziehen, bevor Neigungen in die Tat umgesetzt werden. Sollen wir die Anprangerungspraxis aus den USA übernehmen?

    Philipp, was weißt Du? Ich sehe Dich in der Pflicht, Deine Anschuldigungen jetzt zu konkretisieren. Oder sollen hier vermeintliche Opfer aus der Deckung getrieben werden, die von sich aus nicht öffentlich sprechen?

    Andeutungen und Mutmaßungen sind für alle Beteiligten möglicherweise schwerwiegender als konkrete Anwürfe.

    Und diese Bürde hat das Kreuzburg-Gymnasium, das ich als gute Schule erlebt habe, nicht verdient.

     

    Deine Mitschülerin und Freundin Christiane Colhoun

  • S
    Steffi

    Klar weiß jede/r ehemalige/r Schüler/in der fraglichen Zeit, welcher Lehrer sich hinter dem Pater S. versteckt. So viele Lehrer hatten wir damals nicht an der Schule und anschaulich genug ist er ja beschrieben.

     

    Seltsam nur, dass ich die Erfahrungen des Schülers G. so gar nicht bestätigen kann. Im Gegenteil. Ich hatte diesen Lehrer von der Mittel- bis zur Oberstufe, erst in Religion, dann in Mathe. Das einzige Mal, dass mir Mathe Spaß gemacht hat (und ich den Sinn dieses Faches verstand), war in seinem Unterricht. In Religion gelang es ihm mir und meinen Mitschüler/innen seine Begeisterung und sein Feuer zu vermitteln, wofür ich ihm heute noch dankbar bin.

     

    Ich erinnere mich auch noch gut, dass ich mit 17 und großem Liebeskummer in seiner Sprechstunde saß und er mich einfühlsam und verständnisvoll beraten hat. Dass er da vor mir als Frau Angst gehabt hätte, ist mir nicht aufgefallen. Auch vor meiner Mutter hat er sich übrigens nicht gefürchtet und mir ist auch nie aufgefallen, dass er vor weiblichen Wesen in den Wald geflüchtet wäre. Das wäre bei den vielen attraktiven jungen Lehrerinnen, die damals in die Männerenklave der Schule kamen auch etwas schwierig gewesen.

     

    Nun gut, ich habe meine Erinnerungen und Schüler G. hat seine.

     

    Aber ich finde es nahezu menschenverachtend, einen Mann mit einer Mischung aus Hörensagen, Misstrauen persönlichen Eindrücken (hiermit meine ich ausdrücklich nicht die konkreten Vorfälle, die der Autor selber erlebt hat), garniert mit ein bisschen Küchenpsychologie zu attackieren.

     

    Was soll das?

     

    Wird hier verspätet Frust abgebaut?

     

    Hängt man sich an eine aktuelle Welle an um die Auflage zu steigern?

     

    Hier zeigt sich eine "Hau-drauf-und-Schluss-und-steinigt-ihn"-Mentalität, die mir wirklich zuwider ist.

     

    Eins noch... Ein Priester offenbar in der Beichte einem anderen Priester ein sehr persönliches Geheimnis und dieser andere Priester hat dann nichts anderes mit dem Beichtgeheimnis zu tun, als es einem ehemaligen Schüler zu offenbaren ??????

     

    Ja klar.

     

    Vielleicht googeln Sie mal den Begriff "Beichtgeheimnis", lieber Schüler G.

  • W
    Wagner

    Zunächst halte ich es für mehr als unwahrscheinlich, dass ein katholischer Priester das Beichtgeheimnis verletzt. Und so bleibt es bei den vagen Äußerungen "hat man uns erzählt". Solider Journalismus sieht anders aus.

     

    Und was ist vor 20 Jahren geschehen? Nichts, weil - sollte an der Sache auch nur ein Körnchen Wahrheit sein, was man bezweifeln darf - alle alles richtig gemacht haben!

    Was geschieht heute? Nur auf die Vermutung hin, dass an der Geschwätzigkeit irgendwelcher Personen etwas dran ist, wird über einen Skandal berichtet, den es de facto nicht gab. Die Informanden dürfen allesamt im Schutzmantel der Anonymität bleiben. Wurde die Angelegenheit überhaupt sachlich recherchiert oder wird hier auf das Hören-Sagen hin etwas in die Welt gesetzt? Haben wir es hier mit investigativem Journalismus oder der späten Wut des Schülers G. zu tun? Die Frage bleibt offen.

    Dafür wird jedoch heute - über 20 Jahre später - eine Person in das Licht der Öffentlichkeit gezerrt und bekommt auf der Bühne der vorgeblich linksliberalen TAZ eine "pädophile Neigung" attestiert. Mit einem Wort: ohne auch nur einen einzigen sachlichen Beleg anzuführen, wird ein Mensch an den medialen Pranger gestellt. Billigend in Kauf genomen wird dabei, dass einige, die zu der fraglichen Zeit diese Klosterschule besucht haben, nun glauben wissen zu können, wer Pater S. ist. Solche Artikel verstoßen grob gegen zentrale liberale Prinzipien: Schutz der Privatsphäre, nullum crimen sine lege.

  • JS
    johann s.

    Da gibts noch eine interessante Dynamik mit dem von der Kirche gepflegten und energetisch ausgebeuteten Schuldkomplex. Diese Kirchendiener müssen ja eine gewaltige Schuld fühlen. Je tiefer die Schuld, desto größer die Liebe des vergebenden Gottes, wenn der Diener der Kirche noch eifriger (fanatischer) dient. In dieser perversen Konstruktion kann einiger masochistischer Lustgewinn liegen (ICH habe durch meine Schuld eine persönliche besondere geheime Beziehung zu Gott), der durch ergebensten Gottes(=Kirchen)dienst kompensiert werden kann.

    Manch aufopfernder humanitärer Einsatz von Kirchenleuten hat darin vielleicht seine energetische Quelle.

    Dh.die Energie ist an sich nicht schlecht, die durch den Schuldkomplex ausgelöst wird. Zum Komplex wird die Schuld durch Fixierung, auf Personen oder patriarchale Institutionen (die unbewusste Beziehung bringt den fanatischen Charakter mit sich der Gutes oft ins Gegenteil verkehrt)

    Die 'Vergebung der Sünden' ist an sich eine große Idee, von der Kirche besetzt und kurzgeschlossen- ihr materieller Reichtum beruht großteils darauf.Vergebung von Schuld (Verbunden mit Umkehr)ist eine ungeheure Quelle menschlicher (Liebes-)energie.Sie ist eigentlich humanitärer Beweggrund, Aufhebung von Schuld (die mich immer übersteigt) bedeutet Veranwortung über mich hinaus...

  • P
    Pecuchet

    Danke für die anschauliche Darstellung. Wenn ich das mit meiner eigenen Schullaufbahn auf einer nicht katholischen Schule in den 70ger Jahren vergleiche, dann sehe ich da leider überhaupt keine Unterschiede.

     

    In meiner Schule gab es einen Lehrer, der sich ähnlich quälerisch aufführte. Er war wohl homosexuell, offiziell natürlich nicht, und hatte eine eher rechtskonservative bis radikale Einstellung, weshalb er besonders gerne linke Schüler quälte, die damals noch langhaarig waren. Eines Tages verschwand er für einige Jahre von der Bildfläche und ging in das damals noch franquistische Spanien, um dort an einer Privatschule zu unterrichten. Das Gerücht, dass auch seine pädophilen Neigungen, die er wohl gerne im Kreise der Pfadfindergruppen, die er "betreute", auslebte, ein Grund für das plötzliche Verschwinden waren, wurde damals sofort heiß diskutiert. Nicht zu unrecht, fürchte ich.

     

    Ich bin bis heute froh, dass ich diesen Lehrer nicht hatte. Auf meinem Gymnasium (übrigens einer Jungenschule, so etwas gab es damals noch) fiel er nicht durch sexuellen Mißbrauch auf, vielleicht weil die Schüler nicht klein, d.h. kindlich genug waren. Dafür war sein offen ausgelebter Sadimus allen bekannt. Schüler, die ihm nicht passten, wurden nieder gemacht.

     

    So war das früher, in der "guten alten Zeit", als die Lehrer noch "Autorität" hatten. Davon schwärmen ja heute die Pädagogen wieder, von Autorität, am Besten von "natürlicher" Autorität. In meinen Augen ist das Quatsch. Es geht nicht um Autorität, sondern um den Respekt, den auch Lehrer sich von ihren Schülern erst einmal erwerben müssen. Dies macht Arbeit und geht nicht mit ein paar pädagogischen Tricks. Uns es geht auch nicht, wie in dem Artikel dargestellt, durch die hysterisierende oder demagogische Verführung der Schüler durch einen sich leidenschaftlich als Liebesobjekt anbietenden Lehrer.

     

    Das eine Problem waren (oder sind?) solche Lehrer, erbärmliche und irgendwie auch traurige Gestalten, dass zweite sind aber die Leute Umfeld, die Kollegen, die Schuldirektoren und auch die Eltern, die die zahlreichen Klagen der von ihnen abhängigen Schüler nicht hören wollten. Abwiegeln und Vertuschen statt Aufklären, das war die Devise. Auch aus diesem Grund habe ich hohen Respekt für die heutige Schullleitung des Canisius-Kollegs, die den angezeigten Mißbrauchsfällen auch nach vielen Jahren noch nachgeht. Dies ist der einzig richtige Weg.

  • O
    Oberhart

    Mein Beileid.

     

    Der Satz, dass die katholische Kirche aus Fehlern in der Vergangenheit gelernt habe, bleibt abzuwarten. Vertuschungen von Mißbrauch finden auch heute noch durch Kirchenobere statt, erst letztes Jahr wieder in Süddeutschland. Ebenfalls ist auffällig, dass die katholische Kirche - obwohl der Mißbrauch durch Priester dieser Religionsgemeinschaft anscheinend überall auf der Welt stattfand - fast immer nach dem gleichen Schema reagiert hat. Erst psychischen und sozialen Druck auf das Opfer ausüben, wenn es dann nicht einbricht, Schweigegeld bieten und wenn auch das nicht hilft, eben die Flucht in die Öffentlichkeit. Aber eben nur dann. Und auch hier: alles möglichst kleinkochen. Siehe auch Irland. Oder Bischof Krenn und das Priesterseminar St. Pölten. Dass der Papst auf seiner USA Reise auch Mißbrauchsopfer besucht, hat meiner Meinung nach weniger mit ehrlicher Aufarbeitung als vielmehr mit öffentlichkeitswirksamer Reue zu tun. Die Kirche lebt eben im wahrsten Sinne des Wortes von ihrer Kredibilität. Und die ist erschüttert.

     

    Ich stelle fest: Seit mit Abschaffung des Schwulenparagraphen 175 Homosexuelle in Deutschland frei lieben und leben können, hat die katholische Kirche ein Nachwuchsproblem. Zufall?!

     

    Auch wenn der Papst dieser Tage Mißbrauch offen anspricht und geißelt, wo bleibt denn die ehrliche Auseinandersetzung? Wenn irgendwelche Lehren aus dem Öffentlichwerden von Mißbrauch durch Priester gezogen wurden, dann doch nur, wie man sich nachher den Medien stellt. In Irland wurde seitens der Orden jegliche Kooperation bei der Aufarbeitung des systematischen Mißbrauchs von Kindern in ihren Heimen verweigert und bis zum bitteren Schluss versucht, Fälle zu vertuschen und Namen der Täter aus dem Bericht streichen zu lassen. Mit Erfolg übrigens.

     

    Und wo ist der Versuch, den Systemfehler Zölibat auch öffentlich zur Debatte zu stellen. Nix passiert.

     

    Übrigens wurde auch an der Berliner Jesuitenschule erst die Öffentlichkeit informiert, als bekannt wurde, dass eine Vertuschung nicht länger möglich war. Ich zitiere den Ordensführer der Jesuiten in Deutschland, Stefan Dartmann:

     

    "Das jetzige Hervortreten einiger Opfer macht nun ein Untersuchungsverfahren zur vollständigen Aufklärung der damaligen Missbrauchsfälle möglich und zwingend."

     

    Was genau hat die katholische Kirche aus den Fällen der Vergangenheit gelernt? In die Offensive gehen, wenn Leugnen nix mehr bringt. Herzlichen Glückwunsch!

  • IA
    Ingeborg A.

    Um sich vom Dilemma der Kirchen zu befreien, empfehle ich jedem das Buch von Dawkins "Gotteswahn" zu lesen. Es wirkt befreiend, der Geist wird klarer und das Leben voller Spass und ohne "Sünde" (was ist das eigentlich?).

  • W
    White_Chobo

    Ok, die Geschichte ist ja ganz nett. Mehr als die Botschaft "Man kann mit dem Thema auch anders umgehen" ist aber wohl nicht drin gewesen?

     

    Ich finde es wird auch ein etwas seltsames Bild dieses Paters gezeichnet. Immerhin hat er sich jemandem offenbart anstatt einfach seinen Neigungen nachzugehen.

     

    Was hätte sein können, wenn usw. ist da doch nur reine Spekulation und Fantasiererei. Klar hätte es auch schlimmer kommen können, ist es aber nicht. Es hätte auch überhaupt nicht rauskommen können.

     

    Die Frage ist doch eine grundsätzlichere IMO und zwar wie die Kirche mit Sexualität umgeht und deren Strukturen ggf. auf der einen Seite solche Leute anzieht, aber auf der anderen solche Leute produziert. Oder noch allgemeiner: Wie unsere Gesellschaft sich dem Thema Pädophilie allgemein nähern möchte, ob man überhaupt irgendwelche Hilfseinrichtungen für betroffene Männer/Frauen schafft (von den wenigen die überhaupt existieren).

  • C
    cocoprice

    Meiner Ansicht nach ist sexueller Missbrauch in der (vornehml. kath.) Kirche ein Massenproblem. Selbst bei offensiver Informationspolitik und Ächtung der betreffenden Täter -wovon die Kirche so weit entfernt ist wie eh und je - stellt sich die Frage, inwieweit der Kreislauf aus missbrauchen und missbraucht werden sich strukturell bedingt bis in alle Ewigkeit wiederholt. Die überkommene Sexualmoral der Kirche ist m.E. notwendige Bedingung für Missbrauch in diesem Ausmass. Wer ein Leben lang seine sexuellen Bedürfnisse zu unterdrücken versucht, wird einfach mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wahnsinnig. Dazu kommen die, die schon ihre Berufswahl an ihre schon vorher kaputten Bedürfnisse angepasst haben. Das betrifft längst nicht nur kirchliche Berufe, sonern Lehrberufe etc.

     

    Ich würde niemals meine Kinder in eine kirchliche Erziehungseinrichtung geben, und schon mal garnicht in eine katholische. Und wäre ich gläubiger Katholik, würde mich die Häufung der in den letzten Jahren bekanntgewordenen Fälle und die echt erbärmliche Vertuschungs- und Verharmlosungspolitik der Kirche vermutlich zum Austritt bewegen.

  • TT
    Tom Tom

    Der entscheidende Unterschied zum Fall am CK liegt genau hier: S. und R. waren bei uns damals genau die Revoluzzer, die Gessler so schön beschreibt. Womöglich wäre uns (war aber zum Glück nicht direkt betroffen) manches erspart geblieben, wenn unsere beiden Patres auch eher veklemmt und konservativ gewesen wären, dann hätten sie vielleicht auch noch einen Funken Gewissen gehabt wie Gesslers Lehrer. Wissen kann man's natürlich nicht.