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Archiv-Artikel

PRESS-SCHLAG Kahns knackender Kiefer

KRITIK Selbst nach einem Länderspiel ohne Erkenntniswert wird Bundestrainer Joachim Löw neuerdings hart angegangen

Vor ein, zwei Jahren, hätte sich Kahn mit solch einer Kritik nur lächerlich gemacht

Bei der Europameisterschaft in Polen und der Ukraine ist ja schon so manches nicht gut gelaufen – insbesondere beim letzten Auftritt im Halbfinale gegen Italien. Aber was Joachim Löws Team da am Mittwochabend in Frankfurt darbot, war wirklich der Gipfel! So hatte es zumindest TV-Chefkritiker Oliver Kahn gesehen. Er plusterte sich am Mikrofon derart auf, wie einst im Strafraum, wenn die gegnerischen Stürmer auf ihn zurannten. „Grundsätzlich“ müsse sich der Bundestrainer nach der 1:3-Niederlage gegen Argentinien nun mal Gedanken machen, raunzte er. Nicht so offensiv, sondern „kompakter“ müsse man stehen, und man hörte beim Komparativ förmlich Kahns Kiefer knacken. Zudem beklagte er die zu geringe Einsatzfreude und den fehlenden Ehrgeiz der Nationalspieler.

Bis vor kurzem herrschte unter den Experten noch Einigkeit darüber, dass diese alljährlichen August-Länderspiele, die mitten in die Saisonvorbereitung fallen, nur Muster ohne Wert liefern würden, frei von jeglichem Erkenntnisgewinn. Allenfalls dazu geeignet, mit den ermatteten Profis etwas herumzuexperimentieren. Vor ein, zwei Jahren, hätte sich Kahn mit solch einer fundamentalen Grundsatzkritik zu diesem Zeitpunkt nur lächerlich gemacht. Jetzt aber werden ernsthafte Debatten über Kahns Thesen geführt. Ein Beleg für die geschwächte Position des Bundestrainers, die der gerade erst geschasste Pressechef Harald Stenger schon zu spüren bekam. Die einst schützende Hand von Löw hatte an Wirkkraft verloren.

Insofern hat sich Kahn nur mit populistischem Kalkül an die Spitze einer Bewegung gesetzt, deren Unmut sich auch aus dem Frust speist, dass Joachim Löw jahrelang als sakrosant galt. Das Pendel schlägt nun von einem Extrem ins andere aus. Meinungsumschwünge sind auch bei anderen Diskussionsthemen zu beobachten. Soeben hielten die Experten in Deutschland Löws Team– mit Ausnahme von Spanien vielleicht – für unbezwingbar, neuerdings glauben einige Verzweifelte, ohne inbrünstiges kollektives Singen der Nationalhymne sei man in wichtigen Spielen chancenlos.

Man wird sich wohl an die übernervösen Debatten im Umfeld der deutschen Nationalmannschaft gewöhnen müssen, sollte das Team nicht souverän durch die jetzt beginnende WM-Qualifikation rauschen. Das Publikum hat sich bislang zum Glück noch nicht von den Aufgeregtheiten anstecken lassen. Das war die gute Nachricht von Frankfurt. Im Wissen, dass man nicht allzu viel erwarten durfte, erfreuten sich die Zuschauer an den deutschen Offensivbemühungen und grämten sich nicht wegen der Niederlage.

JOHANNES KOPP