PRESS-SCHLAG: Der Herrgott ist ein Blauer
■ 1860 München — die Religion aus Giesing
München, Grünwalder Straße, Donnerstag, 11. April 1991: In der Geschäftsstelle des TSV 1860 München herrscht Hochbetrieb, die Post stapelt sich, das Telefon schellt ständig, der sprechende Knochen hüpft aufgeregt. Für den morgigen Bayernliga- Schlager gegen Unterhaching sind bereits 25.000 Karten verkauft, Fans schicken gar Blanko- Schecks, um Tickets für die spätere Aufstiegsrunde zu ergattern. Anfragen kommen auch aus Köln, Flensburg und Wien.
Ramersdorf, ein Stadtteil Münchens, am gleichen Tag: Max Brem, 61, der wegen seiner fülligen Figur (1,72 m, 94 kg) nur „Bulli“ gerufen wird, füttert im Hinterhof seines kleinen Häuschens drei hungrige Hasen. „Sechzig?“ grunzt der Rentner und grinst: „Freilich gehe ich am Freitag zu Sechzig. Einmal ein Löwe, immer ein Löwe.“ Auch zu Bayernliga-Zeiten.
Dabei hat Bulli Brem bessere Tage gesehen. „1966 — da sind wir Meister geworden“, sagt er stolz und blickt entrückt wie ein Zen- Buddhist gegen den Himmel. „Radi, Brunnenmeier, Küppers, Grosser — i könnt' Ihnen die ganze Mannschaft aufzählen.“ Hoch ging's damals her. „Da gab es nur eine Frage: bist' ein Blauer oder bist' ein Roter“, bellt Brem stiernackig. Die Roten, das sind die Münchner Bayern, der gehätschelte, ewig (aber nur national, hähä) erfolgreiche Nobelclub. Dagegen die „Löwen“: „Sechzig, das ist eine Religion“, schwärmt Brem, der Blaue.
1860 lebt, der Mythos — und die Mannschaft. Die „Löwen“ stehen nämlich (wieder einmal) vor der Rückkehr in den Profifußball. 1982 wurde ihnen die Lizenz gezwickt. Vereinspräsident Erich Riedl hatte böse abgewirtschaftet, ein finanzieller Rettungsversuch kam zu spät.
Die Münchner, damals Vierter in der Zweiten Bundesliga, mußten in die Oberliga Bayerns, fuhren fortan zu ihren Auswärtsspielen nach Helmbrechts und Vestenbergsgreuth. Der CSU-Politiker Riedl ging nach Bonn. Heute ist er dort Staatssekretär im Wirtschaftsministerium... Geblieben ist ein Gefühl: Die sportlich nie abgestiegenen Sechziger, die Sprößlinge eines Arbeiterclubs, fühlen sich betrogen, gegängelt und ewig zu kurz gekommen.
Karsten Wettberg, 48, „Löwen“-Trainer seit gut einem Jahr, kennt diese Stimmung. Und Karsten, der Populist, nutzt sie. Er, der nebenbei vollberuflich bei der Post werkelt und Betriebsratsvorsitzender ist, prügelt auf die Bonzen ein. „In Unterhaching“, erzählt er von seinem früheren Verein, „da können sich die reichen Herren leisten, daß sie in einem Restaurant den Hummer dreimal zurückgeben, weil die Temperatur nicht stimmt. Das ist nicht meine Welt. Ich finde das zum Kotzen.“ Das zieht. Die blau-weißen Fans jubeln. Karsten, der leider nicht Schorsch oder Sepp heißt, gehört zu ihnen, zu Currywurst und Dosenbier, zu Achselschweiß und Drehbank. Und Wettberg verkörpert im Sinne des Wortes den „kleinen Mann“: Nicht einmal 1,60 Meter mißt er von der Stirnglatze bis zu den Stollen.
Beim Spiel hat der kleine Karsten eine Birne wie Kollege „Osram“ Heynckes, springt außerdem herum wie ein Gummiball. Wie gut, daß niemand weiß, daß ich... Und nimmermüde spricht das fußballverrückte Rumpelstilzchen von den Sechzigern als den „grundehrlichen Menschen“. Von den Basisgehältern könne keiner seiner Spieler leben, sagt er, jeder gehe tagsüber einer „geregelten Arbeit“ nach.
München-Giesing, Grünwalder Stadion, Freitag, 12. April: Mein Verein für alle Zeit wird 1860 sein (aus dem Sechziger-Lied). Die Religion hat Zulauf. In Treue fest pilgern 30.000 Blaue auf den Giesinger Berg und bilden einen vielstimmigen Chor von Baß (auch Rentner Brem singt mit) bis Bariton (1860 hat viele Verehrerinnen). Der Fußball-Schlager endet 2:2 — ein Sieg für die Sechziger. Sie bleiben im 42. Spiel in Folge unbesiegt und behalten ihren Vier-Punkte-Vorsprung gegenüber Hummer-Club Unterhaching. Fünf Spieltage vor Schluß sind die „Löwen“ so gut wie Meister. Was passiert, wenn 1860 wirklich aufsteigt? Bulli Brem weiß es: „Dann wird der Karsten ein Heiliger.“ Warum? „Ja mei“, seufzt der Rentner und blickt erneut zum Himmel, „auch der Herrgott ist ein Blauer“. Gerhard Sepp Fischer
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen