■ PREDIGTKRITIK: Gnadebedürftig
Als ob er sich schon im voraus entschuldigen wolle, beginnt Pastor Scheel in der ostberliner Parochialkirche seine Ausführungen mit der Bemerkung, daß sich vor ihm schon ganz andere die Zähne an den Ergüssen des Apostels Paulus ausgebissen haben. Der vorgeschriebene Predigttext steht im Brief des vom Christenverfolger zum Apostel gewandelten Paulus an die Römer.
Er paßt ganz gut zum 10. Sonntag nach Trinitatis, der zugleich Gedenktag an die dritte Zerstörung des Tempels um das Jahr 70 der neuen Zeitrechnung ist. In Kapitel elf besagten Briefes geht es um das Verhältnis von Juden, Gott und den zum christlichen Glauben bekehrten Römern.
»Ich will euch dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht für klug haltet«, beginnt Paulus den Abschnitt und warnt damit ungewöhnlich milde vor Dünkelhaftigkeit. Die Juden, die jenen Jesus von Nazareth nicht als Gottes Sohn begreifen, sind zwar »Feinde« der Christen, aber gleichzeitig seit Jahrhunderten Gottes Volk. »Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen«, meint Paulus, also bleiben sie, was sie sind: erwählt und den Christen gleichgestellt. Was den Glauben an den Messias betrifft, sind die Juden »ungehorsam«, aber schließlich waren die Glieder der christlichen Gemeinde von Rom vor ihrer Bekehrung regelrechte Heiden, also auch nicht gerade folgsam. Und so hat sie denn der Allmächtige alle zusammen »eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme«, meint Paulus. Im nächsten Abschnitt fährt er dann fort mit dem Lobpreis der Weisheit Gottes, seiner unbegreiflichen Gerichte und unerforschlichen Wege.
Mit diesem »unerforschlich« und »unergründlich« beginnt Pfarrer Scheel. Er behandelt, was er auslegen soll, wie eine geheime Verschlußsache von Insidern. Die Gnade Gottes sei ein Geheimnis, das nicht zu ergründen ist. Obwohl er sich sichtlich Mühe gibt, vermag er nicht recht zu entschlüsseln, was der »gute alte Paulus« in seiner Belehrung der römischen Christen zu Papier gebracht hat. Statt dessen beschränkt er sich auf einen Kernsatz, den vom Eingeschlossensein in den Ungehorsam. Scheel übersetzt diese These damit, daß wir »erbärmliche Wesen im Wortsinn« sind, die der Gnade bedürfen. Ist damit gemeint, daß Gottvater alle Menschen vor lauter Boshaftigkeit im Kerker des Ungehorsams läßt? Vielleicht denkt der Pastor, diese ketzerische Auslegungsmöglichkeit mit seinen Worten ausgeschlossen zu haben.
Das Bonmot von den »erbärmlichen Wesen« ist eine griffige These. Solche Thesen haben ihr Gutes, sie sind leicht zu merken. Wenn aber der ganze Predigttext ein Fragezeichen nach dem anderen hervorruft, wäre ein bißchen mehr Erklärung notwendig. Was zum Beispiel bedeutet, daß die Juden für die Christen Roms »Feinde um euretwillen« sind, aber ansonsten »Geliebte um der Väter willen«? Die Juden waren die Erleuchteten, bevor jener Christus auftauchte. Nur sehen sie nicht, daß dieser der erwartete Messias ist — aber wer kommt schon ohne Theologiestudium auf derlei Spitzfindigkeiten? Die römischen Christen haben vorher den Kaiser verehrt. Vom Standpunkt christlicher Heilslehre betrachtet, ist das auch nicht viel besser. Womit wir dabei wären, daß vor Gott ja doch alle SünderInnen sind — das alte Kirchenlied, das auch Pfarrer Scheel anstimmt mit seiner These von den »erbärmlichen Wesen«, die auf Gnade angewiesen sind. Daß er darüber nicht hinausgeht, suggeriert, daß das Tun und Lassen der Menschen gänzlich unerheblich ist.
Scheel hat den Gedenktag an die Zerstörung des jüdischen Tempels erwähnt. Dies beinhaltet auch das Gedächtnis an die Ermordung von Juden. Durch römische Besatzer in Israel und durch Deutsche. Scheel erwähnt das, aber dann schlägt es sich in seinen Ausführungen doch nicht nieder. Der generelle Freispruch, der jegliche Verantwortung überflüssig macht, ist aber nicht die ganze christliche Botschaft. Friederike Freier
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen