POLITIKER UND GEHÄLTER – WENN KAPITALISMUS DOCH SO EINFACH WÄRE : Fleischliche Tugendwächter
Bei den Einkommensquellen von Parlamentariern muss Öffentlichkeit hergestellt werden. So weit, so klar. „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“ entstammt zwar einer vulgärmaterialistischen Denkungsart, scheint aber einleuchtend, zumindest als Faustregel des Verdachts. Das Problem mit dieser Regel besteht in der Reduktion von politischen Entscheidungen auf unmittelbare ökonomische Interessenlagen. Wenn der Kapitalismus im Verhältnis zu den politischen Machteliten doch nur so einfach gestrickt wäre! Dann könnte man umgekehrt argumentieren. Jedes wichtige Unternehmen beziehungsweise jeder Verband hält sich seinen Abgeordneten oder seine Abgeordnete, und wer als zukünftiger Parlamentarier keinen Sponsor hat, soll sich um der Klarheit willen gefälligst einen suchen. Auf diese Weise könnten sogar die Arbeitslosen zusammenlegen und ein paar parlamentarische Vertreter finden.
Dummerweise sind nicht die Interessen der Einzelkapitale, sondern ist das kapitalistische Gesamtinteresse entscheidend – und das ist glänzend im Medium des Gemeinwohls ausdrückbar. Im politischen Betrieb bedarf es durchschnittlich keiner Bestechung, um Sachzwang und Alternativlosigkeit zu herrschenden politischen Maximen zu erheben. Für diese Übersetzungsarbeit sorgt die Sozialisation innerhalb der politischen Eliten.
Warum das Gros der deutschen Medienkommentatoren gegenwärtig davon ausgeht, alles sei in schönster Ordnung, wenn die Gemeinwohlbindung der Abgeordneten auch bei den Bezügen zum Ausdruck kommt, ist leicht einsehbar. Die journalistischen Sinnstifter sind deshalb Verfechter einer abstrakten Norm des Gemeinwohls, weil sie sich selbst als Agenturen des Allgemeininteresses begreifen. Sie sehen sich nur der Wahrheit verpflichtet, und die ist nun mal identisch mit dem Status quo. Fragt man einen Journalisten nach den realen Machtverhältnissen in seinem Betrieb, so wird er nervös. Schließlich ist er unabhängig, und freiwillige Anpassungsleistungen sind etwas anderes als Direktiven „von oben“. Kommt herunter vom Ross, Tugendwächter der öffentlichen Meinung. Ihr seid Fleisch vom Fleisch derer, die ihr jetzt ermahnt.
CHRISTIAN SEMLER