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Archiv-Artikel

PETER UNFRIED über CHARTS Der Tag, an dem mein Woodstock starb

Kalifornisches Tagebuch (III): Ich stieg in den Chevy. Ich wollte einmal im Leben nach Mendocino. Das war ein Fehler

Hinten in den Untiefen des Geistes sitzen ein paar seltsame Dinge rum. Man weiß gar nicht, was sie da eigentlich noch machen. Aber sie sind da. Holt man sie nach vorn, lösen sie ein seltsames Gefühl in einem aus. Bewahre: Ich rede hier nicht von meinen bescheidenen Erlebnissen mit Annette (wie ja leider alle Frauen in den 70ern und 80ern hießen). Sondern von der persönlichen Auswahl aus dem Komplettarchiv kollektiver Geschichte. Bilder: Rosendahls Ringelsöckchen (München 72). Netzer im schneeweißen Dress von Real Madrid (73). Baumann in Barcelona (92). Berührt mich noch heute.

Dann gibt es Namen. Von Menschen, die ich nicht kenne. Die aber immer noch etwas auslösen: Eugene McCarthy, Bob Beamon, Horst-Gregorio Canellas, Inga und Wolf. Und dann gibt es Orte. Die über Jahrzehnte einen mythischen Klang hatten. Weil sie in einem Popsong vorkamen. Etwa Monterey, Kalifornien („Summer in Monterey“, Eric Burdon). Winslow, Arizona („Take it easy“, The Eagles). Ich fuhr dann hin, und so toll war das auch nicht. Am mythischsten aller Orte aber war ich noch nie gewesen: MENDOCINO. Mein Eldorado. Mein Shangri-La. Mein Wankdorf. Mein Woodstock.

Die Kalifornier wundern sich immer. Man redet so darüber, wo in Nordkalifornien man gewesen sein muss. Dann wollen die Eingeborenen mit einem Supertipp auftrumpfen. Und dann sagen alle Deutschen: „Mendocino? Kennen wir.“ Und die Kalifornier: „Really?“ Nein, nicht wirklich. Was wir kennen, ist das hier: „Mendocino, Mendocino / ich fahre jeden Tag nach Mendocino /An jeder Tür klopfe ich an /doch keiner kennt mein Glück in Mendocino.“ Das ist sicher der bekannteste, wenn auch nicht der beste Song von Michael Holm. (Anm. für die Jüngeren: Holm war in den frühen 70ern auf dem Dieter-Thomas-Heck-Markt ein ziemlich erfolgreicher Sänger.) Auch ist es inhaltlich nicht wirklich überzeugend, dass Holm („Ich hielt an, fragte, wohin“) die tollste Anhalterin der Welt aufgabelt („Sie sagte, bitte nimm mich mit nach Mendocino“) – und dann („leider“) ihren Namen vergisst (oder war Alkohol im Spiel?).

Aber darum geht es nicht. Es geht um das Wort „Mendocino“. Da klingt doch eine Utopie mit: Das Leben ist ja okay. Aber irgendwo da draußen gibt es vielleicht M-E-H-R. Viel mehr. Und zwar in Mendocino. Was selbstverständlich (eine Variante der Utopie!) in Kalifornien liegt. Und so stieg ich letzte Woche in Vancouver, Kanada, in den Chevy und fuhr die Pazifikküste runter bis nach Mendocino, Kalifornien. Es war ein weiter Weg. Zunächst mal war die Wegbeschreibung von Holm („Auf der Straße / nach San Fernando“) irreführend, denn es gibt weit und breit kein San Fernando – weder in Mendocino County noch sonst wo. Und am Ende wurde der Highway 1 so klein und kurvig, dass das Mädchen, das ich nach Mendocino mitnahm, kotzen musste.

Tja, und dann waren wir da. 1.100 Einwohner. Drei Straßen. Ein wirklich beeindruckender Küstenblick. Wenn man Glück hat und durch den Nebel etwas sieht. Und die Augen im beißenden Wind offen halten kann. Mendocino selbst ist eine prätentiöse Aneinanderreihung von auf New-England-Style getrimmten Touristenfallen (Essen, Kunst, Kram). Die Restaurants heißen „Cafe Beaujolais“, die Bäckereien „Tote Fete“, so Zeug. Etwas für Hollywoodfilme, die in kleinen Küstenörtchen spielen. Und für Paare gehobenen Alters und gehobener Einkommensklasse, die sich mal, Anführungszeichen, Ruhe gönnen wollen, weil ihr Arbeits- und Gesellschaftsleben so aufreibend ist.

Irgendwann habe ich mal gehört, dass Michael Holm selbst zwar sang, er fahre „jeden Tag nach Mendocino“, in Wahrheit aber nie dort war. Ich fand das immer fragwürdig. Wo blieb die Authentizität? Heute weiß ich: Holm hatte Recht.

Nicht nur, dass ich nie mehr nach Mendocino fahre. Viel schlimmer ist: Wenn ich das Wort jetzt ausspreche, klingt nichts mehr nach Utopie. Sondern nur noch nach vergeudeter Lebenszeit. Mein Mendocino ist tot. Jetzt bleibt nur noch Amarillo (Tony Christie).

Fragen zur Utopie? kolumne@taz.de Morgen: Jenni Zylka PEST & CHOLERA