PETER UNFRIED über CHARTS : Fußball ist immer noch wichtig
Die Jahres-Charts 2006 (I): mit Klinsmann, Lehmann, Fettes Brot und dem Satz des Jahres von Joachim Löw
Fußball: Im Sommer 2005 spielte ich in der Toskana mit meinem Sohn viel Fußball. Damals erzählte ich ihm, dass unser Nationaltorwart ja Jens Lehmann sei. „Lehmann“, schrie ich, wenn ein Schuss auf mein Tor kam, „der Nationaltorwart.“ Und dass er auch diesen Ball wieder gehalten habe, wie er überhaupt jeden Ball halte und keinen reinlasse. (Der Name Fabio Grosso war mir damals gänzlich unbekannt.) Ging ein Schuss doch mal rein, sagte ich, jetzt sei ich Kahn gewesen. Es war ziemlich kindisch. Aber er glaubte mir und hielt es in der Folge für selbstverständlich, dass Kahn auf der Bank saß.
Es wird sich keiner mehr erinnern, aber dass Lehmann die Nr. 1 sein könnte, war damals so weit weg von der Realität wie Kalifornien von München. Der eine oder andere Befürworter der Arbeit von Jürgen Klinsmann ist ja beim Betrachten des ansonsten nicht erwähnenswerten Kinofilms „Deutschland, ein Sommermärchen“ etwas nachdenklich geworden. Weil Klinsmann darin etwas simpel wirkt („Arne, der muss deinen Atem spüren“ usw.). Seine Gegner tun derweil so, als hätte es ihn nie gegeben, so froh sind sie, dass er weg ist. Wenn man Klinsmann heute im Fernsehen reden hört, den Atlantik im Rücken, kommt einem tatsächlich alles fremder und kleiner vor. Angemessen kleiner, ohne die Aufgeregtheit dieses Sommers. Sei’s drum: Die WM war schön. Und dieser Mann hat einen guten Job gemacht. Es ist heute einiges besser, als es war, bevor er kam. Wer kann das von seiner Arbeit sagen? Und eine der Sachen, die bleiben werden, ist: Dass er es gewagt hat, bei der WM den besseren Mann ins Tor zu stellen. Das war mutig, es war eine Absage an den üblichen Opportunismus, an das Diktat des Moderierens von Interessen-Lobbys. Vor allem hat es meine schönsten Instinkte befriedigt. Kurz gesagt: Die Entscheidung in der Torwartfrage gegen Oliver Kahn war der beste Instinkte-Befriedigungs-Moment 2006.
Ach ja: Die beiden besten Nationalhalbzeiten seit einiger Zeit wurden auch noch abgeliefert. Es war die jeweils erste Hälfte beim 2:0 über Schweden im WM-Achtelfinale sowie im Herbst beim 4:1 in der Slowakei (EM-Qualifikation). Da kriegte man eine Ahnung davon, wie Hochgeschwindigkeits-Kombinationsfußball aussehen kann.
Und eins noch zu 2006: Wenn im Sport-Studio des ZDF einer schreit: „Begrüßen Sie den Bundestrainer!“ Wissen Sie, wer dann grinsend reinmarschiert kommt? Joachim Löw! Man wird sehen, ob er die Härte und Konsequenz seines Vorgängers hat, sich den eigenen Arsch aufzureißen und vor allem die anderen Ärsche auch. Aber dass es in diesem Land möglich ist, dass Löw Bundestrainer wird? Das ist so unglaublich, dagegen ist sogar die Wahl von Boris Palmer zum Oberbürgermeister von Tübingen eine pure Selbstverständlichkeit gewesen.
Fußballsongs: Es gehört seit 1996 zu den angenehmen Momenten eines Lebens, in ein volles Stadion reinzukommen und dann läuft Ian Broudies „Three Lions“. Also „Football ’s Coming Home“. Der wahre deutsche Fußball-Emo-Song hat dagegen ja auch all die Jahre auf sich warten lassen. Es blieb die übliche Flucht in Trash, Nostalgie und Ironie. Aber 2006 ist er gekommen, und zwar unabhängig von der WM: „Fußball ist immer noch wichtig“ von Fettes Brot und ein paar Freunden wie Kettcar-Sänger Marcus Wiebusch. Genau reingezielt in das 11 Freunde-Milieu, vermutlich weil die Jungs selber so drauf sind. Trotzdem ein großer Wurf.
Noch nie hat jemand so unpeinlich „holt den Pokal“ „unser Schicksal“ oder „König Fußball“ gesungen. Kein ironischer Relativismus, was hier Bumm macht, ist das Herz (wirklich!). „Dies ist nicht für RTL, ZDF und Premiere / ist nicht für die Sponsor’n oder die Funktionäre / nicht für Medienmoguln oder Milliardäre.“ Bisschen fett? Aber hey.
Satz des Jahres: „Wer den Ball nicht stoppen kann, sollte ihn lieber weghauen.“ Unser Bundestrainer Joachim Löw in einem „Spiegel“-Gespräch
Fotohinweis: PETER UNFRIED CHARTS Fußballfragen? kolumne@taz.de Morgen: Adrienne Woltersdorf aus OVERSEAS