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Archiv-Artikel

Ozeanischer Traum

Nicaragua ist seit langem neidisch auf Panama – weil man selbst gerne den Kanal hätte, den die anderen haben. Eine Geschichte teurer Baupläne

von RALF LEONHARD

In seinem Arbeitszimmer in Managua beherbergt Manuel Coronel Kautz einen historischen Wälzer: den Bericht der US-nicaraguanischen Untersuchungskommission von 1885 über die Machbarkeit eines interozeanischen Kanals durch Nicaragua. Der schwere Band enthält akribisch genaue Pläne der zu bauenden Schleusen und exakte Daten über die geologischen und topographischen Gegebenheiten.

Als das Projekt im Jahre 1901 dem Kongress in Washington vorgelegt wurde, entschieden die Abgeordneten jedoch gegen Nicaragua. Panama erhielt den Zuschlag. Hundert Jahre später tauchen aber in Nicaragua nicht nur die alten Pläne auf – ein halbes Dutzend unterschiedlicher Kanalprojekte beflügelt heute Investoren und Politiker.

Der Nicaraguasee ist das größte Süßwasserreservoir Mittelamerikas. Bei San Carlos, an dessen südöstlichem Ende, entspringt der Río San Juan, der gemeinsam mit dem See die Ozeane fast verbindet. Seit Menschengedenken regt diese Topographie kühne Pläne einer schiffbaren Verbindung an. Von Philipp II. von Spanien bis zu den Sandinisten haben die jeweiligen Machthaber mit Kanalprojekten geliebäugelt.

Dass eine Schifffahrtsverbindung durch Nicaragua seit mehreren Monaten wieder diskutiert wird, hat einen vernünftigen Grund: Der berühmte Panamakanal ist für viele Ozeanriesen zu eng geworden. In etwa fünfzehn Jahren, davon gehen Schätzungen aus, kann er den Warenverkehr zwischen Pazifik und Atlantik nicht mehr bewältigen. Deswegen wird vom mexikanischen Isthmus von Tehuantepec bis zum Río Atrato im kolumbianischen Urabá an unzähligen Entwürfen getüftelt.

In keinem Land gibt es aber so viele Pläne wie in Nicaragua, dem Land mit der längsten Kanalgeschichte Amerikas. 1984, als Manuel Coronel Kautz Vizeminister für Agrarreform war, bekam er ein streng geheimes Dokument in die Hand: Brasilien, das jährlich siebzig Millionen Tonnen Eisenerz nach Japan exportiert, wollte die Machbarkeit einer weiteren interozeanischen Verbindung prüfen lassen.

Den Brasilianern war die Sache am Ende zu heikel. Nicaragua befand sich de facto im Kriegszustand mit den USA. Und das war auch der Grund, weshalb wenige Jahre später japanische Investoren ihr Interesse an diesem Projekt begruben. Aber Manuel Coronel Kautz ist seither besessen von der Idee, den Bau der Wasserstraße nach Plänen aus dem 19. Jahrhundert zu verwirklichen. Er verspricht sich davon die Lösung aller ökonomischen Probleme des ärmsten Landes Iberoamerikas.

Nach seinen Berechnungen würde sich das Bruttoinlandsprodukt in zehn Jahren mehr als verfünffachen: „Man müsste nur die Großprojekte, die ich vorschlage, verwirklichen: Bewässerung, Tourismus, Elektrifizierung und als Kernstück den Kanal.“ Ähnliche Ideen wälzte Arnoldo Alemán, bis vor kurzem Nicaraguas notorisch korrupter Präsident. Er richtete 1999 im Präsidentenpalast ein eigenes Büro für das Kanalprojekt ein: El Gran Canal.

Im Unterschied zum klassischen Kanalverlauf wollte er aber nicht den Grenzfluss Río San Juan als Wasserstraße nutzen, sondern weiter nördlich die rund zweihundert Kilometer von der Karibikküste bis zum Nicaraguasee überwinden. Der Grund für diese teure Variante, die durch zwei ökologisch sensible Naturreservate führen würde, ist einfach: Man wollte das benachbarte Costa Rica umgehen, dem das Südufer des Río San Juan gehört.

Für Salvador Montenegro, den Direktor des Hydrographischen Instituts an der Autonomen Universität von Nicaragua, kommt jede Einbeziehung des Nicaraguasees in ein Kanalprojekt einem Wahnsinn gleich: „Die Unfallgefahr ist zu groß. Ein lecker Öltanker würde das Ende des Sees als Trinkwasserreserve bedeuten. Man stelle sich vor, ein Schiff mit giftigen Chemikalien kentert.“

Mit der Demission Alemáns und der Aufnahme gerichtlicher Untersuchungen seines Korruptionsnetzwerks dürfte der Große Kanal ad acta gelegt sein. Der neue Präsident Enrique Bolaños hat ihn der enormen Kosten wegen nicht auf seiner Regierungsagenda.

Das gibt Manuel Coronel Kautz wieder Hoffnungen, dass sein Projekt irgendwann die notwendigen Sponsoren findet. Dass es ökologisch nicht unproblematisch ist, beirrt ihn wenig: „Den Luxus, Artenvielfalt und ökologisches Gleichgewicht nicht zu zerstören, können sich vielleicht die reichen Länder leisten, in unterentwickelten Ländern heißt es Biodiversität oder Mensch.“

Dass es auch anders geht, beweist das mit vierhundert Millionen Dollar geradezu lachhaft billige Projekt Ecocanal. Eco steht für ecológico und económico, also sowohl ökologisch als auch wirtschaftlich sinnvoll. Die Befürworter des ökologischen Kanals planen keinen Durchstich und nur minimale Korrekturen im Flussbett des Río San Juan. Ihr Vorhaben ist auch nicht auf den Welthandel ausgerichtet, sondern in erster Linie auf die Verbilligung des nicaraguanischen Außenhandels.

Mehr als achtzig Prozent der Bevölkerung Nicaraguas leben auf der Pazifikseite des Landes, der Handel wird vor allem über den Atlantik abgewickelt: mit der Ostküste der USA und Europa. Derzeit müssen die Waren über Häfen in Honduras oder Costa Rica exportiert werden. Hundert Millionen Dollar könnten jährlich eingespart werden, könnten die Warenströme direkt in die Pazifikregion geleitet werden.

Gabriel Pasos, Chef der Industriellenkammer und Förderer dieser Idee, erklärt, wie das gehen soll: „Wir sprechen von einem Barkassenkanal, also für Lastkähne mit geringem Tiefgang, so ähnlich wie für die Rheinschifffahrt oder auf dem Mississippi. Das belastet die Umwelt kaum und dient dem Transport von Containern.“

Der Umweltexperte Salvador Montenegro ist auch gegenüber diesem Projekt skeptisch. Zwei Stromschnellen und die flache Mündung müssten korrigiert werden. „Jede Art von Wasserweg, mit Schleusen oder mit geringem Tiefgang, durch den Río San Juan oder andere Flüsse sind Initiativen von gewaltigen Auswirkungen auf die Umwelt.“ Montenegro meint, ein so genannter Trockenkanal – eine Eisenbahn- oder Straßenverbindung – wäre weniger schädlich.

Von derartigen Projektideen gibt es gleich zwei, SIT-Global und Cinn. Beide konkurrieren hart. Ihre Betreiber beschuldigen einander, nicaraguanische Abgeordnete bestochen zu haben, um deren Stimme für ihr jeweiliges Vorhaben zu gewinnen. Dass Bestechungsgelder flossen, ist freilich nicht bewiesen. Eine mit viel Publizität gegen SIT-Global eingebrachte Klage vor einem Gericht in den USA verlief jedenfalls im Sande.

SIT-Global genießt die Unterstützung des einflussreichen Unternehmerverbandes Cosep. Juan Carlos Rivas, SIT-Global-Manager, preist sein Vorhaben als patriotische Initiative: „Wir wollen das Land entwickeln und dabei die ökologischen Gegebenheiten nicht außer Acht lassen. Die ausländischen Unternehmen, meistens aus den USA, kommen in der Regel mit der Absicht, möglichst viel herauszuholen, also unsere Naturschätze zu plündern, ihre Gewinne außer Landes zu schaffen und keine Verantwortung für die Entwicklung des Landes und die Erhaltung der Umwelt zu übernehmen.“

Vom Konzept her scheint das Projekt einer Eisenbahntrasse simpel: Es gibt zwei Häfen, die nur durch Schienen miteinander verbunden werden müssen. Wer die Kosten von geschätzten 1,3 Milliarden Dollar tragen soll, ist jedoch offen. Die Weltbank hat Interesse signalisiert, sich mit zehn Prozent der Kosten zu beteiligen, auch die Deutsche Bank soll Kredite in Aussicht gestellt haben. Rentabel wäre ein derartiges Unternehmen nur, wenn mindestens neunzig Prozent der Fracht von außen käme. Wenn der Welthandel erwartungsgemäß zunimmt, könnte sich dieser Trockenkanal in 25 Jahren amortisieren.

Obwohl die Umweltbelastungen durch eine Eisenbahnverbindung als vergleichsweise gering eingestuft werden, muss auch dieses Projekt mit Widerstand rechnen. Denn der kleine Karibikhafen Monkey Point, wo ein gigantischer Tiefseehafen entstehen soll, ist Heimat des vom Aussterben bedrohten indianischen Volkes der Rama. Ein Immobilienspekulant aus den USA hat bereits indianisches Land an der Atlantikküste mit fragwürdigen Titeln aufgekauft und bietet es jetzt über Internet um ein Vielfaches zum Verkauf an.

Auch sonst machen rund um das Kanalprojekt einige Leute gute Geschäfte. Sie leben nicht schlecht von ihren Gehältern und reisen auf Spesen um die Welt, obwohl nicht abzusehen ist, dass die veranschlagten Riesensummen demnächst ins Land fließen.

Die Bahnverbindung von Ozean zu Ozean hat wenig echte Realisationschancen. Denn in Panama, wo die Landbrücke weit enger ist, wird an einem viel günstigeren Projekt gearbeitet. Und die Wasserstraße ist dermaßen teuer, dass an eine Amortisierung in weniger als dreißig Jahren nicht zu denken ist. Bisher ist nicht einmal klar, wer die Machbarkeitsstudie und die Umweltverträglichkeitsstudie finanzieren soll.

So ist damit zu rechnen, dass der Nicaraguakanal auch weiterhin bleibt, was er die letzten fünf Jahrhunderte gewesen ist: eine luftige Idee.

RALF LEONHARD, Jahrgang 1955, war bis 1996 Zentralamerikakorrespondent der taz. Heute lebt er in Wien