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■ Otto Schily will das deutsche Asylrecht abschaffen. Vorgeblich, weil ohnehin eine Europäisierung des Rechts bevorsteht. Doch das ist falsch: Wer Grundrechte abbaut, macht anti-rot-grüne PolitikRecht statt Gnade

Deutschland hat, EU-weit, noch immer die restriktivste Anerkennungspraxis

Letzte Woche, am 9. November, wurde viel von der Verantwortung deutscher Politik gesprochen. Ein Aspekt dieser historischen Verantwortung ist das individuelle Recht auf Asyl. Dieser Anspruch ist im Grundgesetz verankert und garantiert: dass Menschen, die vor Verfolgung, Folter und Mord fliehen, in unserem Land Zuflucht finden.

Heute macht – wie Anfang der Neunzigerjahre – wieder das böse Wort vom „Asylmissbrauch“ die Runde. Aber: Wer betreibt hier Missbrauch? Diejenigen etwa, die dieses Grundrecht für sich in Anspruch nehmen möchten? Oder derjenige, der allein schon diesen Versuch als verdächtig erklärt und ihn zum Missbrauch diskreditiert? Der Sinn von Grundrechten ist doch deren Gebrauch.

Die Perspektive der Harmonisierung des europäischen Flüchtlingsrechts lädt offenkundig auch Innenminister Otto Schily zu vornehmlich an nationalen Interessen orientierten Überlegungen ein. Mit Europa wird hier gerne Schindluder getrieben. Man strampelt sich ab in einem Wettlauf der Schäbigkeit anstatt bei der Verwirklichung eines weltoffenen und bürgerrechtlichen Europa.

Der Sondergipfel der Europäischen Union im finnischen Tampere hat vor gerade einmal vier Wochen eine Wende markiert. Zum ersten Mal bekannte sich die EU klipp und klar dazu, im Hinblick auf ein gemeinsames europäisches Asylsystem, die Genfer Flüchtlingskonvention „uneingeschränkt und allumfassend“ anzuwenden. Bundesinnenminister Schily hat Unrecht, wenn er sagt, dass „ein subjektives Recht auf Asylgewährung in der EU nicht akzeptiert würde“. Denn das so genannte Non-Refoulement-Gebot der Genfer Konvention konstituiert gerade einen derartigen subjektiven Anspruch der Flüchtlinge auf Schutzgewährung.

Würde künftig – wie vorgeschlagen – lediglich eine unabhängige Institution anhand von moralischen anstelle von juristischen Klauseln Asylanträge prüfen, würde das unweigerlich darauf hinauslaufen, das subjektive Grundrecht auf Asyl in einen staatlichen Gnadenakt umzuwandeln. Asylrecht ist aber ein Menschenrecht. In diesen Verfahren geht es oft um Leben und Tod. Die asylrechtliche Entscheidungsfindung muss dieser schwerwiegenden menschenrechtlichen Verpflichtung gerecht werden. Ein Gnadenrecht berücksichtigt vorrangig Opportunitätserwägungen einer Regierung, aber eben nicht den Schutzbedarf von Flüchtlingen. Ein Gnadenrecht löst sich von rechtlichen Bindungen und entzieht sich internationalen Verpflichtungen.

Das wäre ein Rückfall nicht nur hinter den so genannte Asylkompromiss von 1993. Es wäre ein Rückfall in vorrechtsstaatliche Zustände, wo Recht nach Gutsherrenart gesprochen wurde.

Asylanträge werden hierzulande bereits durch eine unabhängige Institution bearbeitet, nämlich durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge. Aufgrund der in Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes verankerten Rechtsweggarantie muss aber jede Verwaltungsentscheidung, also auch jene des Bundeamtes, gerichtlich überprüfbar sein. Darüber hinaus dürfen bis zu Urteilen des Verwaltungsgerichts Abschiebungsandrohungen nicht vollzogen werden.

Gerade diese bundesdeutsche Praxis einer gerichtlichen Überprüfung abgelehnter Asylanträge hat in der Vergangenheit eine wirksame Kontrolle des Bundesamtes sichergestellt. Die Bundesrepublik verfolgt diesbezüglich in Europa keinen Sonderweg. Es war der Europäische Rat, der bereits 1995 in einer Entschließung über Mindestgarantien für Asylverfahren beschlossen hatte, dass die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen müssen, dass gegen behördliche Ablehnungen von Asylanträgen „Rechtsmittel“ eingelegt werden können.

Die Bundesrepublik hat nicht wegen ihres vermeintlich liberalen Zugangsrechts für Asylsuchende die illiberalste Anerkennungspraxis in Europa. Vielmehr: Wir haben mit einer der schärfsten Drittstaatenregelungen in Europa das Zugangsrecht drastisch eingeschränkt. Gleichzeitig aber halten wir Europas restriktivste Anerkennungspraxis aufrecht – unterhalb völkerrechtlicher Standards, insbesondere wenn es um die Anerkennung nichtstaatlicher Verfolgung geht.

Wenn man das Bekenntnis von Tampere zur „uneingeschränkten und allumfassenden Anwendung“ der Genfer Konvention ernst nimmt, dann muss auch anerkannt werden, dass das Hohe Flüchtlingskommissariat der UNO, der UNHCR, das alleinige Mandat hat, die Genfer Richtlinien auszulegen. Nur der UNHCR legt die Definition fest, wer als Flüchtling anzuerkennen ist und wer nicht. Der UNHCR hat mehrfach klargestellt, dass auch Opfer nichtstaatlicher bzw. geschlechtsspezifischer Verfolgung – also z. B. von den Taliban verfolgte afghanische Frauen – als Asylberechtigte anzusehen sind.

Otto Schily vermischt die Aspekte von Flucht und Migration. Konsequent wäre aber, neben der uneingeschränkten Garantie des Grundrechts auf Asyl, die Verankerung eines Zuwanderungsgesetzes. In Tampere wurde nicht nur darauf gedrängt, Asyl und Migration getrennt zu behandeln. Die finnische EU-Präsidentschaft würdigte explizit auch die positiven Aspekte einer Zuwanderung nach Europa.

Die rot-grüne Bundesregierung ist angetreten, in der Grundrechtspolitik die bisherige Logik umzudrehen: Nicht der Flüchtling ist das Problem, sondern dass – beispielsweise durch deutsche Panzer – Fluchtgründe entstehen.

Auch in Europa soll mehr Demokratie gewagt werden. In Tampere wurde soeben ein Gremium eingesetzt, das mit der Erarbeitung einer Grundrechtscharta beauftragt wurde. Die EU will sich so endlich das bürgerrechtliche Fundament schaffen, das ihr bislang fehlt, indem in dieser Charta unveräußerliche Grundrechte garantiert werden.

Im Grunde zielen Otto Schilys Ideen auf ein Asylrecht nach Gutsherrenart

Ich plädiere für eine Renaissance der Grundrechte auch hier bei uns, als Voraussetzung für Europa, als Vergegenwärtigung, wie reich uns demokratische Rechte machen und was wir verlieren, wenn sie uns verweigert oder wenn sie ausgehöhlt werden.

Die Aspekte Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit müssen für alle gleichermaßen gelten, die bei uns leben. Hier darf es keine Hierarchisierung in Menschen erster und zweiter Klasse – in EU-BürgerInnen einerseits und MigrantInnen bzw. Flüchtlinge andererseits – geben.

Grundrechte stellen das Modernste dar, was es in Deutschland und Europa gibt. Ohne sie ist Europa nicht zukunftsfähig.

Claudia Roth

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