Osteuropaforschung: Die schwierigen Nachbarn
Europa und seine Grenzen stehen im Mittelpunkt des ersten Europäischen Kongresses der Osteuropaforscher in Berlin
Spätestens das Nein der Mehrheit der Franzosen und Niederländer beim Referendum über den Europäischen Verfassungsvertrag im Mai und Juni 2005 hat Fragen dauerhaft und mit aller Schärfe auf die Tagesordnung gebracht, die viele "Altmitglieder" der Europäischen Union (EU) bereits für beantwortet hielten: Was ist Europa, wie sollte es verfasst sein und vor allem: Wer gehört eigentlich dazu?
Dass die Selbstverständnis-Debatte innerhalb des "exklusiven Clubs" in vollem Fluss ist, hat der jüngste, durch die Blockadepolitik Polens bestimmte EU-Gipfel im vergangenen Juni deutlich gemacht. Doch ein nicht weniger gewichtiges Problem ist, wie die Beziehungen zu den Nachbarn, die durch die Erweiterung 2004 um zehn und 2007 um zwei neue Mitglieder näher an die EU herangerückt sind, in Zukunft aussehen und gestaltet werden sollen.
Dieses Thema steht im Mittelpunkt des ersten Europäischen Kongresses der Osteuropaforscher in Berlin. Unter dem Motto "Grenzen und Entgrenzungen Europas. Die EU und ihre Nachbarn" werden mehr als 500 Teilnehmer aus 39 Staaten vom 2. bis 4. August in 130 Einzelveranstaltungen ihre Forschungsbeiträge vorstellen und debattieren. Die für alle offene Veranstaltung wird vom Weltverband der Osteuropagesellschaften, dem International Council for Central and East European Studies (ICCEES) und der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO), einem Dachverband von Osteuropawissenschaftlern mit mehr als 850 Mitgliedern, organisiert. Das Spektrum der Themen reicht von Ländern wie dem Baltikum, der Ukraine und Russland über Geschichte, Literatur, Politik, Wirtschaft und Kunst bis hin zu aktuellen Fragen der europäischen Integration und Nachbarschaftspolitik.
Einer der Schwerpunkte des Kongresses ist die Ukraine - aus guten Grund. Das Land machte sich nach der Orangenen Revolution von 2004 verständlicherweise Hoffnungen auf eine europäische Perspektive und steht jetzt wegen andauernder politischer Instabilität vor vorgezogenen Neuwahlen am 30. September. Kiew könnte als Lackmustest für die EU-Nachbarschaftspolitik gelten, die Brüsseler Diplomaten hinter vorgehaltener Hand als "Beitrittsverhinderungspolitik" bezeichnen. Die Konferenz sei ein Forum des Meinungsaustauschs für Experten und eine Möglichkeit, sich über neue Schwerpunkte in der Osteuropaforschung zu informieren, sagt Heike Dörrenbächer, Geschäftsführerin der DGO. "Aber die Veranstaltung soll auch die Debatten befördern, die dann in die Öffentlichkeit getragen werden. Die Frage, was ist Europa, ist ein offener Prozess", fügt sie hinzu und verweist darauf, dass es zum ersten Mal auch eine eigene Diskussionsrunde zur Türkei gebe
Die Tatsache, dass die Konferenz in Berlin stattfindet, scheint einer gewissen Logik zu folgen. Immerhin war Deutschland der lauteste Fürsprecher für einen EU-Beitritt Polens und gilt nicht erst seit der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder (SPD) als einer der wichtigsten Partner Russlands in Europa.
Im krassen Gegensatz dazu steht die Entwicklung an den deutschen Universitäten. Seit 1997 wurden im Bereich Osteuropa-Forschung rund 60 Lehrstühle abgebaut, wovon am stärksten die Slawistik betroffen ist. Derzeit gibt es bundesweit nur drei Lehrstühle im Fachbereich Politikwissenschaft, wo über Länder jenseits der deutschen Ostgrenze geforscht wird.
Das Interesse für Osteuropa ist seit dem Ende des Kalten Krieges gesunken. Wir befürchten, dass es bald nicht mehr genug Nachwuchs mit der erforderlichen Expertise geben wird", sagt Dörrenbächer. Angesichts der jüngsten Spannungen im deutsch-polnischen Verhältnis und eines wachsenden Autoritarismus in Russland wäre diese aber nötiger denn je.
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