piwik no script img

Osman Engin Die CoronachronikenDie Inzidenzmeisterschaft

Foto: privat

Osman Engin ist Satiriker in Bremen. Zu hören gibt es seine Kolumnen unter https://wortart.lnk.to/Osman_Corona. Sein Longseller ist der Krimi „Tote essen keinen Döner“ (dtv).

Zu den allseits bekannten Vorteilen von Corona, wie zum Beispiel: dass an Silvester kein Idiot mehr knallen darf; dass an Weihnachten keine tausend Leute bei uns zum Essen eingeladen werden; dass man sich im Sommer den Urlaubsstress komplett sparen kann; dass an sämtlichen Geburtstagen, Hochzeitstagen, Frauentagen und Valentinstagen kein Mensch mehr ins Restaurant ausgeführt werden will – also, zu all diesen Vorteilen kommt jetzt hinzu, dass meine kleine Tochter Hatice sich seit den neuesten Coronaregeln völlig freiwillig und mit großer Begeisterung mit Mathematik beschäftigt. Seitdem sie erfahren hat, dass bei einer Inzidenzzahl ab 165 die Schulen dichtgemacht werden, ist sie den ganzen Tag über am Rechnen.

Sie studiert mit großem Interesse die aktuellen Zahlen auf der Internetseite des Gesundheitsamtes, addiert, subtrahiert, multipliziert und kommentiert die neuesten Ergebnisse derart enthusiastisch, als ginge es um das Endspiel bei der Fußballweltmeisterschaft.

Um ihre Motivation hoch zu halten, frage ich sie in regelmäßigen Abständen:

„Na, Hatice, wie steht’s denn?“

„Wir brauchen nur noch 2,5 Tore, ich meine, 2,5 Punkte, Papa“, rechnet sie sofort vor.

„Wofür denn?“

„Für einen Sieg.“

„Was heißt das?“

„Das heißt, wir sind jetzt bei einer Inzidenzzahl von 162,5. Noch 2,5 Punkte und ich bin im Kinderparadies! Warte, warte, wir haben jetzt sogar schon 164, brauchen nur noch einen Punkt! Juppiee!“

„Waaau, das ist aber spannend. Ich weiß nicht, warum die Wettbüros das noch nicht anbieten.“

„Papa, Papa, weißt du, was das bedeutet? Das heißt, wenn sich in Bremen noch ein Mensch ansteckt, dann bekommen wir eine Woche Schulferien.“

„Hatice, dann drücke ich dir kräftig die Daumen“, lüge ich, weil ich mich für eine Woche Schulferien nicht so begeistern kann wie sie. Besser gesagt – gar nicht!

In dem Moment kommt Hatice mit einem sehr fragwürdigen Vorschlag:

„Papa, wir brauchen ja nur noch einen Punkt. Steck du dich bitte auch mit Covid an! Dann klappt es ganz bestimmt mit den Schulferien. Bitte, bitte, bitte!“

„Hatice, ich muss dich leider enttäuschen. Das ist nämlich überhaupt nicht Sinn der Sache. Die Inzidenzzahl 165 hat man deshalb festgelegt, damit die Kinder das Virus nicht von der Schule nach Hause schleppen und ihre Eltern umbringen.“

„Bitte, Papa, bitte, Papa“, hüpft sie begeistert von einem Fuß auf den anderen.

„Nein, Hatice, todkrank werden und dazu auch noch dich eine Woche lang ertragen – das ist zu viel!“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen