Osman Engin Die Corona-Chroniken: Die Corona-Räuber
Osman Engin ist Satiriker in Bremen. Er liest seine Geschichten im Radio bei Cosmo unter dem Titel „Alltag im Osmanischen Reich“. Sein Longseller ist der Krimi „Tote essen keinen Döner“ (dtv).
Die goldenen Coronazeiten sind leider längst vorbei. Vorbei die schönen, unbeschwerten Tage, wo wir von morgens bis abends auf der Couch vorm Fernseher rumlungern durften – ja, sogar mussten, und zwar offiziell! Es ist so schade, dass der Lockdown nicht ein paar Jahre länger gedauert hat. Ein hübscher, kleiner Lockdown bis zu meiner Rente wäre perfekt gewesen.
Kaum ging ich danach wieder zur Arbeit, hat mich das Corona sofort ruiniert! Nicht nur gesundheitlich, sondern auch finanziell, obwohl beim großen emotionalen Wiedersehen mit meiner lieben Halle 4 schon viele Glückstränen geflossen sind.
Leider gab es auch ein Wiedersehen mit meinen Arbeitskollegen – mit Nedim, mit Ahmet, mit Ertac, mit Cemal. Und meine türkischen Kumpels sind ungleich gefährlicher und heimtürkischer als jedes chinesische Virus es jemals sein kann. Übrigens, der Spruch „ob in China ein Sack Reis umfällt“ hat mit der Corona-Pandemie seine Gültigkeit verloren. Was ist, wenn der arme Reissack sich mit einem neuen tödlichen Virus angesteckt hat und deshalb umgekippt ist? Mit David 175 zum Beispiel.
Apropos Reis. Heute gibt es bei uns in der Halle-4-Kantine als Nachtisch Milchreis mit Apfelmus und Zimt. Sehr lecker. Leider auch für meine Kumpels.
Deshalb versuche ich mich wie immer mittags klammheimlich zur Essensausgabe zu schleichen, ohne dass die als Arbeitskollegen getarnten Parasiten und Viren es mitbekommen – aber keine Chance!
„Osman, holst du mir auch einen Milchreis mit viel Apfelmus und Zimt, bitte“, meldet sich Cemal sofort.
„Warum holst du es denn nicht selber?“, frage ich, obwohl ich seine Antwort bestens kenne.
„Geht nicht. Ich habe heute meine Maske vergessen.“
„Ich weiß, ich weiß, wie immer in den letzten Monaten. Hast du denn überhaupt eine Maske?“, knurre ich verärgert.
„Osman, für mich auch Nachtisch, bitte. Doppelte Portion. Ich hab heute leider auch keine Maske dabei“, ruft Ertac.
„Für mich natürlich auch“, schmatzt Hasan hinterher. „Ohne Maske ist es verboten, hier hin- und herzurennen.“
„Leute, seit Monaten bezahle für euch alle das Essen! Jetzt muss ich auch noch für den Nachtisch blechen, oder was?“
Seit sechs Monaten läuft das schon so! Die Schnorrer setzen sich in der Kantine gleich neben dem Eingang und rufen im Chor:
„Osman, ich habe meine Maske vergessen, bitte bring mir auch was zu essen mit.“
Falls ich auch mal meine Maske vergessen sollte, wird die gesamte türkische Belegschaft in Halle 4 jämmerlich verhungern.
Früher brauchten die Gauner unbedingt eine Maske, um jemanden auszurauben – heute brauchen sie nicht mal das!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen