■ Oskar Lafontaine nach dem Essener Parteitag der SPD:: „Hinterherhinken? – Das muß ich entschieden in Abrede stellen!“
taz: Herr Lafontaine, Sie haben am vergangenen Montag, als Rudolf Scharping verkündete, nun wolle er auch die Kanzlerkandidatur übernehmen, für sich erklärt, da bleibe nichts zurück. Sie hatten sich aber doch eine andere Entwicklung gewünscht.
Oskar Lafontaine: Ich war für die Trennung der Ämter, ich war aber auch dafür, sich auf Programm und Personen einvernehmlich zu verständigen. Nach drei Gesprächen mit Rudolf Scharping haben wir jetzt so entschieden, damit ist das Thema erledigt.
Was hat Sie überzeugt?
Es war für mich von Anfang an klar, die Kanzlerkandidatur nicht gegen den Willen des Parteivorsitzenden anzustreben.
Herr Scharping hat aber doch bei der Mitgliederbefragung einen Teil seiner Stimmen deshalb bekommen, weil viele dachten, wer Scharping wählt, bekommt Lafontaine als Kanzlerkandidat.
Ich glaube nicht, daß es jetzt noch sinnvoll ist, rückwärtsgewandt zu spekulieren, wer aus welchen Motiven zu welcher Entscheidung kam. Die Entscheidung ist gefallen, damit hat sich's.
Sie fühlen sich nicht betrogen?
Nein.
Während Sie bislang für weitertreibende Einsprüche und provokative Debatten standen, betonen Sie in letzter Zeit das Einvernehmliche und Integrative. Wie wird Ihre künftige Rolle aussehen?
Ich habe lange Zeit den Auftrag gehabt, die Programmdebatte der SPD zu moderieren und weiterzubringen. Da ein Programm, das den neuen Bedingungen gerecht werden soll, nicht durch das Abschreiben vorhandener Beschlüsse zustande kommt, kann man in einer solchen Funktion schwer darauf verzichten, Anstöße zu geben. Das will ich auch in Zukunft tun.
Wo hat die SPD den größten Bedarf?
Es geht nicht um die SPD, es geht um die entscheidende Frage, wie wir die ökonomische und soziale Krise in Deutschland bewältigen. Wir müssen zwei Fragen beantworten: Wie schaffen wir in den neuen Ländern Kapitalbildung und Investitionen? Zweitens, wie bremsen wir die Explosoion der Staatsverschuldung?
Da gibt es auch von der SPD oder von Ihnen noch keine brauchbaren Vorschläge.
Wir arbeiten intensiv daran. Es handelt sich hier um eine außergewöhnliche Herausforderung. Unsere besondere Situation besteht, im Gegensatz zu allen anderen Mitgliedsstaaten der EG, darin, daß wir in den neuen Ländern eine deindustrialisierte Landschaft haben, daß wir hohe Transferleistungen haben, aufgrund derer die Staatsverschuldung immer weiter nach oben geht. Die besonderen Bedingungen erfordern neue Antworten.
Das hört sich eher nach Schadensbegrenzung als nach einem neuen Reformimpuls an.
Ich sehe darin keinen Widerspruch. Jeder ökonomische Vorschlag, der sozial unzuträglich und ökologisch nicht durchdacht ist, ist unakzeptabel. Nur Reformen können die Probleme lösen.
Aber 1993 gibt es andere Vorzeichen als 1988. Wenn Sie diese beiden ökonomischen Fragen in den Vordergrund stellen...
... Es sind die zentralen...
... stimmt, und an ihnen werden sich vorraussichtlich auch die Wahlen 94 entscheiden. Wo ist der Raum geblieben für das, was in der zweiten Hälfte der 80er Jahre als neuer Reformimpuls entwickelt wurde? Stichwort: ökologische Steuerreform.
Im Jahr 1990 hat man erklärt, daß alles, was wir in der zweiten Hälfte der 80er Jahre diskutiert haben, obsolet sei. Jetzt zeigt sich, daß das alles nach wie vor aktuell ist: gerechte Verteilung der Arbeit, Arbeitszeitverkürzung mit oder ohne Lohnausgleich, ökologische Modernisierung der Industriegesellschaft und weitere Demokratisierung. Die Reformdebatte von damals wird die Grundlage jeder Politik sein, die heute überhaupt noch auf Erfolg hoffen kann.
Aber ist der Eindruck falsch, daß die SPD diese Impulse heute nicht mehr sehr offensiv vertritt?
Wen meinen Sie damit?
Sie zum Beispiel.
Ich habe auch im Jahr 1990 gegen die Mehrheit der politisch Verantwortlichen und der Meinungsmacher diese Thesen vertreten und ich werde das weiter tun
Noch einmal, lassen sich die Reformimpulse aus der Vor-Einheits-Phase umstandslos auf die heutige Situation übertragen? Wie untermauert die SPD heute diese Reformideen von damals?
Wir haben Massenarbeitslosigkeit und explodierende Staatsverschuldung aufgrund der Fehlentscheidungen der Regierung Kohl. Jetzt ist die Frage, wie wir die Arbeit verteilen, hochaktuell. Ebenso wie die Frage der gerechten Verteilung der Belastungen auf die einzelnen Bürger oder die ökologische Modernisierung der Industriegesellschaft. Es gibt wirklich überhaupt keinen Grund, diese Reformansätze in Frage zu stellen. Es sind die einzig tragfähigen.
Wie kommt es dann, daß die SPD seit der deutschen Einheit so aus dem Tritt gekommen ist, so hinterherhinkt?
Hinterherhinken? – Das muß ich entschieden in Abrede stellen! Wir haben 1990 die Ansätze vertreten, die dann zögernd von den anderen übernommen wurden. Nehmen Sie das Thema Rückgabe statt Entschädigung oder die Sanierung der industriellen Kerne im Osten Deutschlands. Wir haben 1990 die Pflegeversicherung thematisiert, mittlerweile ist das von allen als notwendig akzeptiert. Wir haben in der Energiepolitik eine Position bezogen, die nach wie vor zukunftsweisend ist. Wir sind auch in der Frage internationaler Bundeswehreinsätze klar und haben das bereits 1990 vertreten. Ich könnte noch eine Zeitlang fortfahren. Mich wundert manchmal, daß der ganze Katalog der politischen Vorschläge von einem Tag auf den anderen vergessen wird.
Nicht einmal den SPD-Mitglieder scheinen diese Vorschläge erfolgversprechend zu sein...
Auch SPD-Mitglieder bewegen sich in dieser schnellebigen Zeit, in der es schwierig ist, sich rückzuerinnern. Aber wir müssen den Versuch unternehmen, eine Politik zu konzipieren, die länger trägt als ein oder zwei Jahre.
Welche Rolle werden dabei die Mitglieder selbst spielen?
Wir sollten die Mitgliederbefragung gezielt bei wichtigen Sachfragen einsetzen. Wir werden das sicher nicht bei jeder streitigen, aber eben bei entscheidenden Fragen machen.
Haben Sie schon die erste Frage an die Mitglieder im Kopf?
Wenn die Frage künftiger Einsätze der Bundewehr außerhalb des Nato-Vertragsgebietes wirklich ein ernsthaftes Thema würde, dann wäre das sicher auch eine Frage an die Mitgliedschaft.
Bislang ist das noch kein ernsthaftes Thema?
Ich sehe nicht, daß innerhalb der SPD eine Mehrheit für militärische Intervention außerhalb des Nato-Gebietes denkbar ist.
Steht das erst an, wenn die SPD 1994 die Regierung übernimmt?
Nein. Der Fehler der Bonner Außenpolitik besteht darin, daß sie sich in den letzten drei Jahren ausschließlich auf diese Frage konzentriert hat. Ansonsten ist da Fehlanzeige. Die Jugoslawien-Politik war eine einzige Katastrophe, die Europa-Politik scheitert an falschen ökonomischen Entscheidungen, man hat keine vernünftigen Antworten für die Staaten Osteuropas, die eine stärkere Einbindung in die europäische Sicherheitspolitik wollen. Unser außenpolitische Alternativentwurf zum Durcheinander der Bundesregierung ist vorhanden und leicht vermittelbar.
Wird die SPD in der Frage künftiger Bundeswehreinsätze nicht ähnlich in die Defensive geraten wie beim Asyl?
Nein, das ist nicht vergleichbar. In der Asylfrage ging es nur darum, ob man die Zuwanderung begrenzt. Dieses Gebot der praktischen Vernunft wurde dann typisch deutsch zu einer moralisch- ethischen Frage überhöht. Ich glaube, daß die Mehrheit der Bevölkerung nicht will, daß Wehrpflichtige außerhalb des Nato-Gebietes eingesetzt werden.
Welche Bedeutung hat für Sie der Essener Parteitag?
Er ist die Grundlage einer neuen Ära in der SPD-Führung, weil mit Rudolf Scharping ein neuer Vorsitzender gewählt wurde, der noch sehr jung ist und vorhat, dieses Amt lange auszuüben.
Ist damit die Führungskrise der SPD beendet?
Ich glaube, jeder in der SPD- Führung weiß, daß wir nur Erfolge haben, wenn wir zusammenarbeiten.
Sie zeigen sich immer sehr optimistisch, daß die SPD 94 in Bonn regieren wird.
Die Bürger werden 94 Bilanz ziehen nach 12 Jahren Kohl. Die zentralen Ankündigungen dieser Regierung sind nicht eingelöst worden. Das anspruchsvolle Vorhaben einer geistig moralischen Erneuerung scheitert schon an der Tatsache, daß in Deutschland Menschen ermordet werden, weil sie eine andere Nationalität oder Hautfarbe haben. Die damalige Ankündigung, das beste Konjunkturprogramm sei der Regierungswechsel, ist als Massenarbeitslosigkeit Wirklichkeit geworden, deren Größenordnung an die Weimarer Republik erinnert.
In welcher Konstellation wird Kohl abgelöst? Ihr Wille, den sozial-ökologischen Reformimpuls wieder aufzunehmen, deutet auf rot-grün, zumindest auf eine Ampel-Koalition. Oder wollen Sie das in einer großen Koalition verwirklichen?
Ich war und bin gegen vorherige Festlegung auf Koalitionen. Daß Koalitionsbildungen von Inhalten abhängig sind, ist klar. Dennoch bleibe ich bei der Aussage: Vor Wahlen sollen Parteien sagen, was sie selbst wollen, nicht was sie im Bündnis mit A, B oder C wollen. Darüber werden wir nach den Wahlen zu entscheiden haben. Das Interview führten
Tissy Bruns und Matthias Geis
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