: Ort zum Schreiben und Atmen
Worin besteht Berlins Mittel- und Osteuropakompetenz? Im Roten Rathaus versuchte sich unter anderem der ungarische Schriftsteller Dalos an einer Antwort
Es gibt Wörter, die kann man nicht mehr hören. „Mittel- und Osteuropakompetenz“ zum Beispiel. Tausendmal gehört, tausendmal ist nichts passiert. Und nun soll in tausendundeiner Nacht alles anders werden?
Noch schlimmer als das Wort an sich sind da nur Veranstaltungen mit Einladungen, die so lauten: „Berliner Initiative Mittel- und Osteuropakompetenz“ lädt ein zur Diskussion „Die Mittel- und Osteuropakompetenz der Stadt Berlin – Mittel- und Osteuropäer/innen in der Stadt“, und zwar im Rahmen des „zweiten Berliner Mittel- und Osteuropakompetenztags mit Diskussionsrunde und Markt der Möglichkeiten“ – und das alles auch noch im Roten Rathaus unter Schirmherrschaft des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit.
Vielleicht hat sich György Dalos am Dienstagabend gedacht, dass man solch geballter Kompetenz – immerhin waren 250 Experten geladen – nur mit vornehmer Zurückhaltung begegnen könne. Also sprach der ungarische Schriftsteller und Exdissident nicht über die Berliner Mittel- und Osteuropakompetenz, sondern über sich selbst: „Berlin ist voller Spannung“, sagte Dalos, „ich habe hier vier Bücher geschrieben. Man kann hier wunderbar schreiben – und atmen.“
Was Dalos das Understatement, ist Jaroslav Šonka der schwejkische Humor. Der Journalist und Studienleiter der Europäischen Akademie machte sich genüsslich über die Großmannsucht der selbst ernannten Mittel- und Osteuropaexperten lustig, hinter der sich doch nur „Ignoranz“ verberge. „Doch das hat ja auch was Gutes“, sagte Šonka. „Maßnahmen wie die Einschränkung der Freizügigkeit sind schließlich ein hervorragendes Investitionsprogramm für die Grenzgebiete in Tschechien und Polen.“
Angriffslust blitzt auf
Doch all die Höflichkeit und aufblitzende Angriffslust der Herren Schreiber prallte an den Herren Berliner Akteuren der Mittel- und Osteuropakompetenz ab. Routiniert wies Berlins Osteuropabeauftragter Wolfram O. Martinsen auf die Bedeutung der EU-Erweiterung für die mittelständischen und kleinen Unternehmen hin, und ebenso routiniert meldeten sich Vertreter derselben zu Wort und verlangten von ihren Akteuren mehr Aktion. Kultur und Wirtschaft, das sind eben zwei paar Stiefel, die im besten Falle nebeneinanderher gehen, im schlimmsten sich dagegen auf die Füße treten.
Das hatte auch schon Wolfgang Kaschuba geschwant, dem Leiter des Instituts für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität, der den Mittel- und Osteuropakompetenztag einleiten durfte. Eindringlich verwies Kaschuba darauf, dass es schon in den zwanziger Jahren weniger die Waren- und Kapitalströme waren, die Berlin mit Mittel- und Osteuropa verbanden – als „die Menschen, die von dort nach Berlin kamen und damit eine natürliche Brücke bildeten“. War es nun Höflichkeit, die Kaschuba nichts über die Wirtschaft sagen ließ? Oder plädierte er dafür, dass dem wirtschaftlichen Erfolg erst ein Mentalitätswechsel vorausgehen müsse? Ganz so deutete es Jaroslav Šonka nämlich an, als er von der „Faulheit der Deutschen“ sprach, „eine slawische Sprache zu lernen“.
Das Verhältnis von Wirtschaft und Kultur, die vielleicht wichtigste Frage im Zusammenhang mit der „Unwort“-Diskussion, blieb offen an diesem Abend. Aber es war nicht völlig abwesend. Immerhin wurde die „Berliner Initiative Mittel- und Osteuropa“ nicht von der Senatskanzlei gestartet, sondern unter anderem von der „JOE-List“, deren Erfinder Alexander Götz die Diskussion moderierte und als Veranstalter auch den Blick von außen aufs Podium geholt hatte. Hinter der Abkürzung JOE-List verbirgt sich der Newsletter der „Jungen OsteuropaexpertInnen“. In diesem findet sich all das, was sonst so unvereinbar scheint: Hinweise auf Ausstellungen und Veranstaltungen ebenso wie Jobangebote und Termine von Fachkonferenzen. Die JOE-List ist damit auch ein Vorgriff auf die Berliner „MOE-Kompetenz“, wie sie einmal aussehen könnte, dann, wenn sich Wirtschaft und Kultur nicht immer auf die Füße träten. Vorerst aber hört sich JOE-List einfach besser an als – Sie wissen schon. UWE RADA