Orkan über Norddeutschland: „Sebastian“ – größer als „Irma“
Ungewöhnlich früh wird die Orkansaison mit einer Sturmflut eingeleitet. Von Klimawandel wollen Meteorologen aber nicht sprechen.
Doch der Orkan, der am gestrigen Mittwochabend an der deutschen Nordseeküste seine volle Energie freisetzen sollte, ist der erste in der neuen Sturmflutsaison, aber er wird nicht der schwerste sein. Das Abend- und Nachthochwasser war mit 1,50 bis 2,00 Metern über mittlerem Hochwasser vorhergesagt – eine ganz normale Sturmflut, keine sonderlich schwere (siehe Kasten). Aber ausreichend, um die weitgehend ungeschützten Halligen an der nordfriesischen Küste zu überfluten: Hooge, Langeness, Oland, Gröde und Habel werden spätestens nach 18 Uhr „Land unter“ gemeldet haben, die kleinen äußeren Halligen Südfall, Süderoog und Norderoog bereits früher.
Infolge des Sturmtiefs "Sebastian" sind am Mittwoch in Hamburg und Nordrhein-Westfalen zwei Menschen ums Leben gekommen. Bei heftigen Windböen wurde in Hamburg nach Angaben der Polizei ein 38-jähriger Passant von einem herabstürzenden Gerüst erschlagen. Im nordrhein-westfälischen Brilon starb ein 53-Jähriger durch eine umstürzende Fichte. Bei einem weiteren Toten in Hamburg geht die Polizei inzwischen von Suizid aus. (afp)
Und das ist alles andere als romantisch. Katrin und Heiner Brogmus hatten bereits am Dienstag mit den Vorbereitungen begonnen. Eine Galloway-Kuh mit einem drei Tage alten Kälbchen holten sie in eine eigene Box im Stall, den Rest der Herde am Mittwoch. Überall auf Hooge wurden Pferde, Rinder und Schafe auf die Warften getrieben, die Hühner eingefangen und die Häuser und Scheunen flutsicher gemacht. Auch die Strandkörbe und Toilettenwagen, die rund um die Hallig verteilt sind, wurden am Mittwoch auf die sicheren Wohnhügel gebracht.
Zehn- bis zwölfmal im Jahr ist das so, das gehört zum Leben auf den Marschinselchen vor der schleswig-holsteinischen Westküste dazu, aber normalerweise nicht schon Mitte September. Windstärke 12 und mehr und damit Orkanstärke sagten die Meteorologen übereinstimmend für Mittwoch voraus, Böen mit bis zu 150 Stundenkilometern. Das Sturmtief „Sebastian“ reicht zudem von Dänemark bis Norditalien: „Der hat einen Durchmesser von rund 900 Kilometern“, sagt Meteorologe Dominik Jung vom Portal wetter.net, „damit ist er größer als der Hurrikan Irma, der gerade die Karibik und Florida heimsuchte.“
Für Nord- und Ostsee gelten unterschiedliche Definitionen:
An der Nordsee mit täglichem Hoch- und Niedrigwasser fällt das mittlere Hochwasser (MHW) an jedem Ort anders aus. In Hamburg liegt es bei 2,10 Metern über Normalnull (NN).
Als Sturmflut gilt ein Wasserstand von 1,50 Metern über MHW, das entspricht 3,60 Meter über NN. Bei 2,5 bis 3,5 Metern (oder 5,60 Metern über NN) spricht man von einer schweren Sturmflut, darüber von einer sehr schweren Sturmflut.
Landunter bezeichnet an der Nordsee die Überflutung der Halligen, die nur mit leichten Sommerdeichen geschützt sind. Ab etwa 1,50 Meter setzt die Nordsee die Wiesen unter Wasser, dann schauen nur noch die Warften mit den Häusern heraus.
In der Ostsee gilt als Sturmflut bereits ein Hochwasser von 1,00 bis 1,25 Meter über mittlerem Wasserstand, von 1,25 bis 1,5 Meter spricht man von einer mittleren Sturmflut, bei 1,5 bis 2,00 Meter von einer schweren Sturmflut. Mehr als 2,00 Meter über dem mittleren Wasserstand gilt als eine sehr schwere Sturmflut.
Aber, zum Glück, ist Sebastian lange nicht so gewalttätig. „Es pfeift mächtig und der Regen fliegt hier waagerecht“, berichtet am frühen Nachmittag Michael Klisch, Leiter der Schutzstation Wattenmeer auf Hooge. Das werde, so seine Prognose, „ungemütlich“. Auch für die Touristen, die auf der Hallig festsitzen: Der Fährverkehr wurde Mittwochmittag eingestellt, auch Helgoland war nicht mehr erreichbar, die Inseln Amrum, Föhr und Pellworm nur unregelmäßig.
Als Konsequenz der Erderwärmung will Meteorologe Jung den September-Orkan aber nicht bezeichnen. „Ungewöhnlich und auffällig“ sei der frühe Zeitpunkt schon, sagt er, aber mit dem Etikett „Klimakatastrophe“ sei er vorsichtig. Aber wenn sich das in den nächsten Jahren wiederhole, müsse man das Phänomen neu betrachten.
Eine neue Betrachtungsweise hat auf jeden Fall FÖJler Michael Engbert, der vom Haus der Schutzstation auf der Hanswarft die Nordsee 100 Meter entfernt über den Deich schwappen sieht: „Das wird aufregend heute Nacht.“ Genau so wollte er es ja haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland