: „Orakel von Delphi läßt grüßen“
■ Zum Streit um die Fünfprozenthürde in der Wahlrechts-Diskussion
DEBATTE
Ein einheitliches Wahlgebiet, ein gemeinsames Wahlgesetz und die Fünfprozentklausel! Die SPD hat hoch gepokert, gar mit einem Gang nach Karlsruhe gedroht: Das erste gesamtdeutsche Parlament auf Widerruf gewählt?
Diesmal war die SPD schneller. Kaum war die Idee aufgetaucht, verkündete der vorsitzende Jurist Vogel vor der versammelten Presse: Zwei Wahlgebiete, das verstieße ebenso gegen das Grundgesetz, wie eine Änderung der Fünfprozentklausel. Auch der spätere Kompromißvorschlag eine länderbezogene Sprerrklausel - wurde von ihm postwendend demaskiert. Das verletze das verfassungsrechtliche Gebot der Chancengleichheit. Die Öffentlichkeit war staunender Zaungast einer Diskussion um Verfassungsprinzipien. Nichts mehr mit dem alten Grundsatz „one man one vote“ - gleicher Zählwert und gleicher Erfolgswert! Das seien die Differenzierungen, die das Grundgesetz vorschreibe, so sei das eben in einem komplexen Rechtssystem. Das Tempo hat kaum einer mehr mitgehalten. Auch 'DieZeit‘ hielt einen Prozeß vor dem Bundesverfassungsgericht für „möglich“. 'DerSpiegel‘ befaßte sich schon mit dem zu erwartenden Urteil, nur wie es lauten würde, konnte er nicht so genau sagen.
Grober Unfug, das dürfte noch ein schmeichelhaftes Prädikat für die selbsternannten Hüter der Verfassung sein.
Zunächst einmal ist festzustellen, daß die Frage, nach welchen gesetzlichen Bestimmungen in der DDR gewählt wird, nicht der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) unterliegt, es sei denn, die DDR ist vor den Wahlen dem Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland beigetreten und das Grundgesetz ist vom Bundestag auf das Gebiet der DDR erstreckt worden. Solange jedoch die DDR ein völkerrechtlich souveränes Subjekt ist, kann ihr jedenfalls von bundesdeutschen Gerichten nicht vorgeschrieben werden, wie ihr Wahlgesetz auszusehen hat. Egal, wie man es juristisch konstruieren würde, alle Klagen zum BVerfG liefen auf eine indirekte Normenkontrolle über ein DDR-Gesetz hinaus, ein „offenkundiger Mißbrauch des verfassungsgerichtlichen Verfahrens“, wie es der renommierte Verfassungsrechtler Martin Kriele in der 'FAZ‘ vom 19. Juli formuliert hat. Daran ändert sich auch nichts, wenn die Wahlmodalitäten in einem Staatsvertrag festgelegt werden. Vermutlich wird sogar, wie bei Staatsverträgen häufig, ein besonderes Vertragsgericht eingerichtet, und das ist klassischerweise paritätisch besetzt.
Auch nach dem Beitritt ist die Konstituierung des ersten gesamtdeutschen Parlamentes wegen der angewendeten Wahlrechtsvorschriften nicht über den Weg nach Karlsruhe zu blockieren. Zunächst deswegen nicht, weil der Beitritt von Verfassungsorganen der DDR erkärt wird, nachdem die Wahlmodalitäten feststehen. Sollte die Wahl nun vom Verfassungsgericht annuliert werden, entfiele rückwirkend die Entscheidungsgrundlage für die Beitrittserklärung: die Festlegung gesamtdeutscher Wahlen und deren Ablauf. Somit würde die erfolgreiche Anfechtung der Wahlen zu einer jedenfalls zeitweiligen - Wiederherstellung des Status quo ante, also der Teilung Gesamtdeutschlands führen.
Aber auch inhaltlich entsprechen die Forderungen der SPD nicht unserem Verfassungsrecht. Ganz im Gegenteil gibt es triftige Argumente, daß das von der SPD angestrebte Ziel einer gesamtdeutschen Fünfprozentklausel dem Grundgesetz widerspricht. Im 'Spiegel‘ vom 23. Juli 1990 war zu lesen, daß „ungewisse Aussichten für eine Klage gegen den gesamtdeutschen Wahlmodus“ bestünden, da eine Auswertung der Entscheidungen des BVerfG kein klares Ergebnis brächte. Der Schlußsatz - „Das Orakel von Delphi läßt grüßen“ - faßt den Inhalt treffend zusammen, aber nur weil dem Autor - offenbar in Unkenntnis des delphischen Wahlspruchs: „Erkenne dich selbst!“ - die politichen Motive den Blick aufs Juristische trüben: Wie das Bundesverfassungsgericht die grundsetzlichen Regelungen zum Wahlrecht interpretiert, daran hat es nie einen Zweifel gelassen. Zunächst einmal die immer wieder betonte Prämisse: Aus Art.3 GG ergebe sich, so das Gericht zuletzt 1985, „der Grundsatz der formalen Wahlrechtsgleichheit“. Im Zusammenhang mit dem in der Bundesrepublik geltenden Verhältniswahlsystem bedeute dies, daß jede Stimme den gleichen Erfolgswert haben müsse. Das Errichten einer Fünfprozenthürde sei ein Verstoß dagegen, da alle für eine Partei abgegebenen Stimmen, die an der Fünfprozenthürde scheitert, den Erfolgswert Null besitzen. Nur durch einen „besonderen zwingenden Grund“ sei dies gerechtfertigt. Einen solchen Grund hat das Gericht bisher anerkannt in der Gefahr einer „übermäßigen Parteienzersplitterung“, die „eine Regierungsbidlung erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht“. Es hat bereits 1952 in einem seiner ersten Urteil betont, daß es diese Auffassung nicht als einen abstrakten Lehrsatz - sozusagen politiktheoretischer Provenienz - versteht, sondern daß es um „ein konkretes Wahlgesetz in einem bestimmten Land zu einem bestimmten Zeitpunkt“ gehe. Daher müsse die „Wahlrechtsgleichheit im Rahmen des jeweiligen Staatsganzen beurteilt werden“. Aus dem Gesamtzusammenhang der damaligen Entscheidung zum schleswig-holsteinischen Wahlrecht (im Hinblick auf den Südschleswigschen Wählerverband) wird deutlich, daß eine Prozenthürde als Durchbrechung des verfassungsrechtlichen Grundsatzes eines gleichen Wahlrechts jedenfalls dann nicht zulässig ist, wenn sie sich gegen Parteien richtet, die nicht „den Begriff der Splitterpartei“ erfüllen. Was unter „Splitterpartei“ zu verstehen ist, hat das Gericht definiert: Dieser Begriff sei nicht „rein zahlenmäßig“ bestimmt. Vielmehr sei zu berücksichtigen, daß eine Partei, die „in einem lokal abgegrenzten Wahlgebiet stark vertreten ist, repräsentationswürdiger ist, als eine Partei, die ihre verstreuten Stimmen aus dem ganzen Land zusammentragen muß“. Deshalb müsse - wolle man von einer Splitterpartei reden - „zu der kleinen Stimmenzahl hinzukommen, daß die Partei keinen örtlichen Schwerpunkt hat“. Das Gericht hat in derselben Entscheidung hervorgehoben, daß die Zulässigkeit einer Sperrklausel und deren Höhe auch von der (nicht zahlenmäßig zu verstehenden) „Bedeutsamkeit für das Staatsleben“ der betroffenen Partei abhinge. Sei sie insoweit „bedeutsam“, dann dürfe sie nicht an einer Prozenthürde scheitern.
Unter diesem Blickwinkel ist klar, daß jedenfalls die Oppositionsgruppen in der DDR (Demokratie Jetzt, Neues Forum, Initiative für Frieden und Menschenrechte, die Grünen und der Unabhängige Frauenverband), aus deren Mitte sich die Aktivisten der Novemberrevolution rekrutierten, an einer Prozenthürde nicht scheitern dürfen - wenn unser Grundgesetz der Maßstab sein soll. Ohne ihre unter Risiken für Leib und Leben entfalteten politischen Aktivitäten gäbe es das „Staatsleben“ gar nicht, das für das Verfassungsgericht Grundlage für die Beurteilung der „Bedeutung“ einer Partei bestimmt.
Selbst wenn man jedoch der Auffassung nicht folgen will, wonach aus verfassungsrechtlicher Sicht es geradezu geboten ist, daß den neuen Gruppierungen in der DDR der Einzug ins gesamtdeutsche Parlament ermöglicht wird, so steht jedenfalls fest, daß es das BVerfG voll in das Ermessen des Gesetzgebers gestellt hat, ob dieser die Prozenthürde „auf das gesamte Wahlgebiet oder nur auf den Listenwahlkreis bezieht“. Die fragliche Entscheidung aus dem Jahre 1972 befaßte sich mit dem Wahlrecht in einem Bundesland und bestätigt eine bereits 15 Jahre früher vom Gericht entwickelte Auffassung. Was für den Landesgesetzgeber gilt (Sperrklausel für das gesamte Wahlgebiet oder regional), muß analog auch für die ganze Republik gelten: Staatsweit oder länderbezogen, das ist Sache des Gesetzgebers und ist verfassungsrechtlich nicht festgelegt.
Einen ersten Sieg hat die SPD errungen. Offenbar genügt ihr das nicht. Sie setzt in ihrem Machtpoker weiter auf alles oder nichts. Die Oppositionsgruppen hat sie sich damit schon zum Gegner gemacht (von Listenplätzen bei der SPD spricht keiner mehr). Sie sollte sich nicht nur bei Machiavelli die Anleitungen für ihre Politik holen, sondern sich gelegentlich auch nach Osten hin öffnen: Eine konfuzianische Weisheit sagt: Wer es an sich reißt, verliert es.
Karlheinz Merkel
Der Autor ist Rechtsanwalt in West-Berlin und berät die Gruppen des Bündnis 90 in Wahlrechtsfragen.
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