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Archiv-Artikel

Opas Gespenster

Es spukt im Palast der Erinnerung: In „Ein unsichtbares Land“ erzählt Stephan Wackwitz einen Familienroman

von DIRK KNIPPHALS

So ein Buch über den eigenen Großvater – das muss man erst einmal bringen.

Stephan Wackwitz ist der Autor von bislang zwei Romanen, darunter dem – seltene Sache! – wunderbar leichten intellektuellen Kolportageroman „Walkers Gleichung“. Außerdem hat er viele Essays geschrieben, in denen er häufig eine autobiografische Ausgangssituation daraufhin abtastet, was an ihr von allgemeinem Interesse sein könnte. Ein heikles hermeneutisches Verfahren natürlich, das schnell zu einer unbedarften Wir-Sagerei führen könnte, es bei Stephan Wackwitz aber nie tut.

Dazu ist er ein viel zu skrupulöser Leser nicht nur der eigenen Gedanken und Lebensumstände, sondern auch der geisteswissenschaftlichen Autoren, mit denen er seine an sich selbst gewonnenen Ergebnisse gerne abgleicht. In einem Essay hat er einmal Maxim Biller, Adorno, Schiller und Betrachtungen über einen erigierten Penis überzeugend zusammengebracht („Der Aufsteifungsrappel“). Auf so etwas muss man auch erst mal kommen!

In „Ein unsichtbares Land“ wendet sich Stephan Wackwitz nun dem „Erinnerungspalast“ seines Großvaters zu. In vielen Bänden aus je „zwei- bis dreihundert sehr eng beschriebenen Seiten auf zwiebelschalendünnem Durchschlagpapier“ hat dieser Opa väterlicherseits seit der zweiten Hälfte der Fünfziger sein Leben erzählt. Man liegt nicht falsch, wenn man dies Buch als eine Art schriftstellerischen Zweikampf des Erzählers mit diesen Aufzeichnungen begreift.

Stephan Wackwitz erzählt den „Familienroman“ des Großvaters nach, füllt leere Flecken aus, variiert mancherlei, entdeckt erschreckt Ähnlichkeiten mit seiner eigenen Sichtweise und nimmt hier und da Korrekturen vor. Es geht ihm dabei immer auch darum, sich selbst zu verstehen. Denn beim Lesen der großväterlichen Erinnerungen will es dem Ich-Erzähler „manchmal scheinen, als hätten sich über die Jahrzehnte mein Leben und das Leben meines Großvaters hinter meinem Rücken miteinander verständigt“. Was insofern überraschend ist, als der Erzähler nie so hatte werden wollen wie dieser. Kein Wunder, muss man sich diesen Großvater doch als im Alter schroff-reaktionären Menschen vorstellen.

Für den Leser dieses Dialogs über die Jahrzehnte und die Generationen hinweg gibt es zunächst einmal viel zu lernen. Denn es hat Andreas Wackwitz in seinem Leben an manche heikle Orte der deutschen Geschichte verschlagen. Den Ersten Weltkrieg hat er kämpfend mitgemacht, dann ist er Pastor in der Nähe von Auschwitz geworden. 1933 wandert er nach Namibia aus. Als er ausgerechnet im Herbst 1939 nach Deutschland zurückkehren will, wird sein Schiff von einem britischen Kreuzer aufgebracht. In die Gesellschaft nach dem Krieg hat er sich dann nie recht einfinden können, er blieb ein Bewohner des für den Enkel inzwischen unsichtbar gewordenen Landes (daher der Titel) von vor dem Krieg.

Der Enkel und Ich-Erzähler erweist sich als aufmerksamer Beobachter der damaligen Beobachtungen des Großvaters, insbesondere deren nationalistische und auch rassistische Wendungen kann er geschickt freipräparieren. Der Sog des Erzählens aber ergibt sich aus einem anderen Umstand, der den Text allererst vollends zu seiner, des Enkels, Partie macht: Über das Motiv des Unheimlichen bohrt sich Stephan Wackwitz geradezu in die Geschichte seines Großvaters hinein.

Als der etwa anlässlich eines Familienausflugs in die Nähe von Auschwitz die Ängste eines Kindes vor einer toten Zecke beschreibt – die Krematorien müssen unter Hochdruck gearbeitet haben –, liest Stephan Wackwitz das vor dem Hintergrund der von seinem Großvater weitgehend ausgesparten Judenvernichtung: Der Ausflug muss damals schon unheimlich gewesen sein, aber dem Enkel ist es vorbehalten, „die Gespenster zu sehen“, die den Weg seines Großvaters kreuzten. Die vergasten Juden, die der Großvater kaum wahrgenommen hatte, lebten in den Leerstellen seiner Erinnerungsbände fort.

Es liegt kein Triumph der Erkenntnis in der Erzählerstimme, wenn er dies feststellt. Eher ein Moment der nüchternen Bestandsaufnahme. Als der Großvater noch lebte, umgab ihn eine für den Enkel unheimliche und, wie es gelegentlich heißt, geradezu „geisterhafte“ Atmosphäre; auch die gab Andreas Wackwitz an seinen Nachfahren weiter. Die literarische Rekonstruktion dieses Gefühls bildet das Leitmotiv des „Unsichtbaren Landes“, der Enkel lernt es schließlich, wenn auch erst spät, erzählerisch handhabbar zu machen.

Über den Stand der Empörung über den Großvater, der sich den Ungeheuerlichkeiten von Nazizeit und Weltkrieg gegenüber, um das Mindeste zu sagen, unempfindlich erweist, ist der Erzähler erkennbar schon hinaus. An diesem Punkt wird neben dem Familienroman noch etwas anderes sichtbar: der Entwicklungsroman eines deutschen Intellektuellen. Als der Großvater noch lebte, konnte der Enkel nur mit stummem Trotz und jugendlicher „Transusigkeit“ reagieren. In den Siebzigerjahren identifizierte er sich dann mit den Opfern, wie viele seiner Altersgenossen es taten – die Episoden, in denen Rudi Dutschke gleichsam als Wiedergänger der von den Nazis zum Schweigen gebrachten jüdisch-intellektuellen Theoretiker analysiert wird, gehören zu den Glanzstücken des Buchs. Wirklich souverän kann der Enkel aber erst jetzt, Jahre später die Geschichte erzählen.

In der Mitte des Buchs wird dies intellektuell abgesichert. Die Philosophen Fichte und Schleiermacher stellt Wackwitz dort als „zwei grundlegend verschiedene Möglichkeiten deutscher Tradition“ vor: Entweder geht es um ein Finden ihres Ursprungs (Fichte) oder um ein Erfinden der Tradition (Schleiermacher). Fichte, der die Ursprünglichkeit der Deutschen zeigen wollte, führte zur Deutschtümelei des Großvaters. Seinen ironischen Gegenspieler Schleiermacher macht Wackwitz dagegen als denjenigen aus, „der mir gegen meinen Großvater helfen würde“. Schleiermacher habe, so heißt es, „gewusst, dass wir uns im Verstehen der Vergangenheit selbst verstehen und dass nicht von jeher zwangsläufig ausgemacht ist, wie wir sind und wohin wir gehen müssen“. Gut zu wissen, wenn die familiären Traditionen nichts taugen. Gut gegen die Gespenster.

Das hört sich wie eine Befreiungsgeschichte an. Aber so ein Begriff würde zu viel Pathos unterstellen. Es herrscht in diesem Buch vielmehr eine feine Melancholie vor, ab und an auch feiner Spott. Deutlich ist auch der gelassene, erwachsene Wille, die Dinge so zu sehen, wie sie sind. So intelligent wie bei Stephan Wackwitz ist dort, wo Großvater war, selten Ich geworden.

Stephan Wackwitz: „Ein unsichtbares Land“. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2003., 288 S., 19,90 €