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Archiv-Artikel

Ohne Zweifel

Kassandra in der „Bild“-Zeitung: Der „FAZ“-Herausgeber Frank Schirrmacher hat entdeckt, dass die Gesellschaft älter wird, und schlägt Alarm. Doch eigentlich versucht er, den Intellektuellen zu retten

Schirrmacher ist ein Intellektueller im Schrumpfstadium. Er reflektiert nicht mehr

VON STEFAN REINECKE

„Das Alter wirft seine Schatten schon auf die 30-Jährigen, und es vermummt manche 40-Jährigen mit Melancholie und Traurigkeit.“ Frank Schirrmacher (44)

Etwas „Unvorstellbares“ passiert. Niemand will es sehen, obwohl es offenkundig ist. Ein „Krieg“ kündigt sich an, in dem es um „unsere Seelen“ geht. Eine Revolution, die „unsere Vorstellungskraft überfordert“. Es ist ein globales Ereignis, das „ganze Kontinente in Atem halten wird“ – in Deutschland wird es dafür sorgen, dass „die dazugewonnene Bevölkerung der DDR von 18 Millionen sich gleichsam in nichts auflösen wird“ (was, nebenbei, ein westliches Wunschbild ist). Flucht ist unmöglich, denn die Katastrophe ist, wie jede ordentliche biblische Heimsuchung, unausweichlich und umfassend. Doch nun hat es einer gewagt, dem Grauen ins Auge zu blicken. Frank Schirrmacher hat herausgefunden, dass wir weniger Kinder bekommen und älter werden und daher die westlichen Gesellschaften altern.

„Das Methusalem-Komplott“ entwirft ein Schreckensbild in grellen Farben. Hin und wieder kippt dieses MG-Feuer von Hyperbeln, steilen Vergleichen und nervtötenden Kriegsmetaphern ins Komische: „Nicht nur Menschen, ganze Völker werden altern“, heißt es atemlos auf Seite 14. Entsetzensbleich wenden wir uns ab und erschrecken uns ganz doll.

Diesem Buch fehlt jede Spur von Zweifel und Innehalten. Schirrmachers Rhetorik folgt jener der Demographen, die berufsbedingt zum Apokalyptischen neigen: Denn sie beobachten Prozesse, die langfristig und kaum zu ändern sind, außerdem hört ihnen selten jemand zu. Doch ehe man über ihre finsteren Prognosen verzweifelt, sollte man die Studien aus den Siebzigern und Achtzigern aus dem Antiquariat holen. Dort wurde in exakt dem gleichen Katastrophensound („Zeitbombe Mensch“) die Überbevölkerung als unausweichliches Menschheitsschicksal beschworen. Damals waren zu viele Kinder das Unheil, jetzt sind es zu wenige. Alles ist anders, nur die Zukunft sieht noch immer übel aus. Auch deshalb wirken Schirrmachers Dramatisierungsfloskeln so unoriginell.

Zweifellos existiert ein ernstes, weit reichendes Problem. Die Gesellschaften werden (nicht nur im Westen) älter – und dies wird nicht nur das Renten- und Gesundheitssystem auf eine harte Probe stellen. Die jugendfixierte Wirtschaft muss Älteren mehr Raum geben. Dies ist ökonomisch nötig und, angesichts von zunehmend gesunden Älteren, auch gesellschaftlich sinnvoll. Leider hat niemand eine leise Ahnung, wie sich dies, zumal in einer Gesellschaft, in der Junge zur umkämpften Mangelware werden, ändern lässt.

Auch Schirrmacher rückt die Altersdiskriminierung ins Zentrum. Der Text ist wie eine Predigt aufgebaut: erst die wortreiche Schilderung des kommenden Unheils, dann die ermunternde, moralische Handreichung. Ihr seid auch mit 70 nicht alt, ihr werdet alt gemacht, also wehrt euch – so ungefähr lautet die frohe Botschaft. Doch wo es kompliziert wird – etwa bei der Frage, wer länger arbeiten soll und wer nicht –, findet sich nur Plattes: „Die Unterstellung, dass ein Mensch mit 60, 65, 70 oder 75 nicht mehr in der Lage sein soll, intellektuelle oder körperliche Leistungen im Berufsalltag zu erbringen, gehört zu den schleichenden Rassismen der Gesellschaft.“ Das mag man als FAZ-Herausgeber oder taz-Autor so sehen – Müllmänner, Verkäuferinnen und Bandarbeiter dürften die Idee, mit 75 noch zu arbeiten, eher als Zwangsbeglückung empfinden. Darüber nachzusinnen würde sich lohnen. Schirrmacher malt indes lieber Angstbilder über die „gewaltige Jugendwelle der muslimischen Länder“, die den alternden Westen überschwemmt. Junge Islamisten kippen rüstigen Redakteur aus dem Rollstuhl.

Bücher über Alter und Generation haben derzeit Konjunktur. Die Klasse ist als Ordnungsmuster im Postindustriellen untergegangen, gender mainstreaming wurde inzwischen in die zuständigen Ausschüsse verwiesen. So bleibt das Alter als gesellschaftliches Ordnungsmuster. Beim Alter kann jeder mitreden – offenbar ist dies ein Text, mit dem sich eine individualisierte Massengesellschaft mit sich selbst verständigt. Daher rührt die etwas rätselhafte Inflation von Generationsbüchern. Schirrmacher fügt sich in diesen Kontext. Er erweitert das flatterhafte, zum Oberflächlichen neigenden Genre um das Ernste, allerdings nicht unbedingt Seriöse.

Denn dieses Buch bedient sich nicht nur einer krachenden Rhetorik – es folgt auch argumentativ dem Grundmuster des Alarmismus: Was sich nicht in das Schauerbild fügt, wird übersehen. So ist die Altersdiskriminierung hier total, lückenlos und von schier unbeschreiblichem Schrecken. Merkwürdigerweise haben wir uns an 60-jährige Rockstars wie Mick Jagger oder Tina Turner, an 40-jährige Teenie-Idole wie Madonna gewöhnt. Doch wo Ambivalenzen beginnen, erlischt Schirrmachers Interesse. „Das Methusalem-Komplott“ ist kein Buch, das eine falsche, rasselnde Rhetorik benutzt, um die Aufmerksamkeit zu fesseln – es ist das falsche Buch mit der richtigen Rhetorik.

Kurzum: Interessant ist dieser Text eher als Symptom einer Krise, als Versuch, die Figur des Intellektuellen unter verschärften medialen Bedingungen zu verteidigen. Mit dem unabhängigen Intellektuellen, der in der alten Bundesrepublik ja zeitweise eine leuchtende Figur war, steht es seit längerem nicht zum Besten. Das Ende der Systemkonkurrenz 1989, die RTL-II-Mediendemokratie und das postideologische Zeitalter machen ihm das Leben schwer. Frank Schirrmacher versucht den Intellektuellen als Denker, der weiß, wo es mit der Gesellschaft hingeht, zu inszenieren. Er tut dies per Vorabdruck in Bild, denn er will gehört werden. Er erklärt bei „Beckmann“ Verona Feldbusch die Vorteile von Viagra, denn ihm ist nichts zu dumm, um Aufmerksamkeit zu erringen.

Der Typus Schirrmacher ist ein Intellektueller im Schrumpfstadium. Nicht weil er auf Wirkung zielt, sondern weil er vor lauter Wille zur Wirkung sein Kerngeschäft – die Reflexion – aufgegeben hat. Seine Arbeit besteht nicht mehr darin, Argumente abzuwägen – es reicht, die einschlägigen wissenschaftlichen Journale zusammenzufassen, eine Bild-taugliche These zu zimmern und diese mit rhetorischem Gebläse unter die Leute zu bringen.

Wo früher Reflexion war, ist bei dem Intellektuellentypus Schirrmacher eine Mischung aus Predigerton und jenem Ratgebersound getreten, den man von Dale Carnegie kennt. „Was Sie hier lesen, ist kein kulturkritisches Pamphlet“, schreibt Schirrmacher mal – und damit hat er, wenn auch anders als gemeint, Recht. Mit Kritik hat dieses Buch wenig, mit Marktschreierei viel zu tun.

Der Intellektuelle vom Typus Schirrmacher läuft damit Gefahr, zur tragischen Figur zu werden. Wer alle zwei, drei Jahre ein neues Thema entdeckt, gegen das die Französische Revolution eine Anekdote war, muss ja dauernd die rhetorische Dosis erhöhen. Damit steigt der Preis für den Erfolg. Die Thesen werden immer steiler, der Gestus wird immer wilder. Doch ein Intellektueller, der die feine Grenze von Zuspitzung zum Krawall überschreitet, ruiniert sein Kapital: Glaubwürdigkeit. Am Ende wird er so ganz und gar Teil des Unterhaltungsgeschäfts sein, das er eigentlich benutzten wollte, um Gehör zu finden.

Frank Schirrmacher: „Das Methusalem-Komplott“. Blessing Verlag, 200 Seiten, 16 €