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Ohne Piraten geht‘s nicht

Handlicher neuer Speicherstadt-Führer listet akribisch genau bauliche Fakten, Historie sowie vereinzelt Menschelndes auf und vergisst auch den alten Störtebeker-Schurken nicht

von PETRA SCHELLEN

Vielleicht ist alles Understatement Lug. Vielleicht ist dies auch ein Thema, das man nicht wirklich emotionslos betrachten kann – weder als Einheimischer noch als Zugereister. Und vielleicht geschieht es daher zwangsläufig, dass man die Hamburger Speicherstadt, Thema eines neuen, jetzt herausgegebenen, handlichen Stadtführers, mit gemischten Gefühlen betrachtet.

Denn es ist natürlich nicht nur ein kunsthistorisch-architektonisch interessantes Gelände, das mit Superlativen wie „riesigst“ und „einzigartigst“ nicht geizt. Es ist – und das zeigt schon das Deckblatt mit adrett in der Dämmerung beleuchteten Gebäuden – zugleich Symbol für sorgsam verborgene Reminiszenzen an die angeblich gute alte Zeit des blühenden Handels. Denn wie sonst wäre zu erklären, dass an dem baulichen Ensemble vor allem die Dimension faszinert? Wie plausibel zu machen, dass auch Globalisierungsskeptiker von alten Handelswegen zu faseln beginnen und sogar Begifffe wie „Tor zur Welt“ nicht scheuen, sobald sie der backsteinernen Lagerhäuser ansichtig werden?

Betont sachlich kommt demgegenüber das Büchlein daher, das nicht nur mit Geschichte, sondern auch mit einem 20-Stationen-Rundgang samt Beschreibung jedes einzelnen Blocks aufwartet. Dies alles ist allerdings mit derart hölzernder Akribie aufgelistet, dass man sich eher einer verwaltungskompatiblen Auflistung gegenüberwähnt. Eine trockene Bestandsaufnahme hanseatischer Reichtümer und derer, die sie sponserten, bietet das Buch mit dem Untertitel Ein Viertel zwischen Tradition und Vision. Und man fragt sich tatsächlich, ob irgendwer die Muße aufbringt, gar so genau nach jedem einzelnen Gebäude zu schauen.

Zu menscheln beginnt‘s dann wieder, wenn berichtet wird, dass im Wasserschlösschen an der Dienerreihe die Windenwächter wohnen durften – Techniker, die die hydraulischen Speicherwinden betreuten. Interessant auch zu wissen, dass zwar bis heute offiziell niemand im Freihafengelände wohnen darf, dass dies – per Ausnahmegenehmigung – Hausmeister, Schuppenvorsteher und technisches Personal dennoch tun. Es mag dort nächtens allerdings ein wenig unheimlich sein, insbesondere dann, wenn der Hamburger Jedermann, ersonnen und inszeniert von Michael Batz und in diesem Jahr schon zum neunten Mal gespielt, durch die Fleete geistert.

Die Speicherstadt werde hier nicht zur bloßen Dekoration degradiert, beteuert das Handbuch, ohne den Gegenbeweis anzutreten oder darzulegen, warum das denn so verwerflich sein soll. Denn das nächtliche Grauen ist eben eins der Pfunde, mit denen die Speicherstadt wuchert, ist sie doch bei Nacht mindestens so interessant wie am Tag. Dass die phantasievoll bunte Speicherstadt-Illumination hierzu stark beigetragen hat, kann hier nur vermutet werden. Sicher ist aber, dass dort in Caravaggio-Manier mit Licht und Schatten gespielt wird, dass bauliche Ornamente und Details nachgezeichnet werden, dass es eine Freude ist. Als wahres Vergnügen gelten auch die Krimi-Nächte und Schmuggelfahrten, die an einen ebenfalls schon zum Klischee gewordenen Mythos anknüpfen und die Schattenseite des ehemaligen Reichtums romantisieren.

Nicht vergessen wurde in dem Speicherstadt-Bändchen schließlich die Störtebeker-Skulptur am Brooktorhafen, in Bronze gegossene Erinnerung an die Enthauptung des angeblichen Piraten; deren aufgenagelte Köpfe zierten einst den Galgenplatz auf dem Grasbrook, damit eventuell einreisende Kollegen gleich abgeschreckt würden.

Im Museum für Hamburgische Geschichte lagern heute die mitten durchs Haupt genagelten Originalköpfe. Was das vorliegende Buch allerdings verschweigt, ist die Tatsache, dass die genaue Identität der Schädel bis heute ungeklärt ist und dass Störtebeker kein „herkömmlicher“ Pirat war, sondern, geduldet von der Hanse, gemeinsam mit den Vitalienbrüdern feindliche Schiffe plünderte und die geraubten Waren in norddeutschen Häfen halblegal verkaufen durfte. Doch ohne den „Piraten“ Störtebeker wäre Hamburg samt Speicherstadt eben auch nicht, was es ist. Und mit allzu viel kritischer Information würde „der Hanseat an sich“ seiner Identität letztlich auch nicht mehr froh.

Speichersadt - Ein Viertel zwischen Tradition und Vision. Hamburg: Christians Verlag 2002; 120 S., 9 Euro

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