: Ohne Hilfe geht es nicht
Wenn Einkaufen zur Anstrengung wird: In „Das Experiment“ probiert ein Student für 30 Tage aus, was es bedeutet, im Rollstuhl zu sitzen, und RTL II gelingt ein ernstes Stück Fernsehen (21.15 Uhr)
Von PEER SCHADER
Andi ist mit der letzten U-Bahn nach Hause gefahren. Und jetzt sitzt er da in seinem Rollstuhl, vor einer Rolltreppe, die nicht funktioniert, neben einem Lift, der außer Betrieb ist. Andi rollt an die Treppe heran, schaut nach oben und ruft laut: „Hallo, ist da jemand?“ Aber da ist niemand.
Es sind solche einfachen Szenen, mit denen „Das Experiment“ auf RTL II erklärt, wie schwer es ist, auf fremde Hilfe angewiesen zu sein, wenn man im Rollstuhl sitzt. Dabei hat der 26-jährige Andreas Glück. Der Student ist nicht sein Leben lang auf den Rollstuhl angewiesen. Im Gegenteil: Andi ist Extremsportler. Nach 30 Tagen darf er wieder aufstehen. Bis dahin aber soll er so tun, als säße er im Rollstuhl, um zu sehen, was das bedeutet.
„Ich hab keine Angst vor dieser kleinen Aufgabe“, tönt er anfangs und behauptet: „Ich hab’s im Griff.“ Doch das stimmt nicht. Alles dauert viel länger als gewohnt: aufstehen, auf Toilette gehen, anziehen. Aus Stolz lehnt er fremde Hilfe ab, weil er es alleine über den Randstein schaffen will. Aber das ist nicht so einfach. Mit der Zeit entdeckt Andi, welche Mühe es macht, dauerhaft eingeschränkt zu sein.
Selbst wenn aus dem Off ein paar Mal zu oft Andis mögliches Scheitern herbeiorakelt wird, ist RTL II mit „Das Experiment“ ein ungewöhnlich ernstes Stück Fernsehen gelungen, das nicht so harmlos ist, wie es das Label „Doku-Soap“ suggeriert, das der Sender seiner Reportage verpasst hat. Schon das Vorgänger-Experiment, bei dem ein Münchner 30 Tage als Obdachloser ohne Dach überm Kopf in Hamburg lebte, hat eindrucksvoll gezeigt, wie schwierig es für einen Normalo ist, sich auf ungewohnte Lebensumstände einzustellen, obwohl es ständig Menschen gibt, die genau das müssen.
Am Automaten Geld abheben? Eine Katastrophe für Rollstuhlfahrer, weil der Bildschirm zu hoch angebracht ist! Fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln? Kommt auf die Laune des Busfahrers an, ob das ohne Stress geht. Einkaufen im Supermarkt – wie soll man denn gleichzeitig den Wagen und sich selbst schieben? Das niederschmetterndste Erlebnis ist jedoch sein Job in einem Münchner Club, wo Andi als Türsteher im Rollstuhl von vielen Gästen schlicht ignoriert wird, bis er klarstellt, dass er hier bestimmt, wer rein darf.
Ganz so locker, wie er vorgibt, ist das Experiment für Andi nicht. Er schläft schlecht, reagiert schnell genervt und merkt, dass er sich nicht auf alle Freunde verlassen kann. Einen Kumpel, der ihm seit Beginn des Experiments aus dem Weg geht, beschimpft er: „Wenn du schon jetzt keinen Bock darauf hast, wie wäre das dann, wenn ich wirklich querschnittsgelähmt wäre?“ Erstaunlich ist immerhin, wie viele Menschen Andi unterwegs ihre Hilfe anbieten.
Nach 30 Tagen Einschränkungen hat sich Andi vom aufgeblasenen Poser zu einem – nun ja: etwas weniger aufgeblasenen Poser entwickelt, der sehr genau verstanden hat, was es heißt, seine Beine nicht mehr bewegen zu können. „Am Anfang war es mir sehr wichtig, wie der Rollstuhl aussieht und dass ich gut in dem Rollstuhl aussehe. Jetzt ist mir das egal“, sagt er zum Schluss. „Es gibt Wichtigeres, auf das man achten muss.“ Vielleicht hat er das bald wieder vergessen. Vielleicht aber auch nicht.