Offener Brief an Guttenberg: "Die Ungerechtigkeit macht uns sauer"
Merkel soll eine Diskussion über Guttenbergs Glaubwürdigkeit zulassen. Das sagt Johannes Staemmler, Doktorand und Mitverfasser eines offenen Briefs.
taz: Herr Staemmler, Sie haben mit vier andere Doktoranden einen offenen Brief an die Bundeskanzlerin veröffentlicht. Woher kam die Idee?
Johannes Staemmler: Der Ursprungsmoment war die Debatte im Bundestag. Da haben wir uns gesagt: Das kann doch wohl nicht wahr sein. Ist das jetzt die Debatte und vor allem auch die abschließende Reaktion der Regierung gewesen?
Was fordern Sie von Angela Merkel?
JOHANNES STAEMMLER, 28, promoviert an der Freien Universität und der Hertie School of Governance in Berlin in Politkwissenschaft. Sein Thema: Zivilgesellschaft in strukturschwachen Regionen.
Wir erwarten von der Kanzlerin, dass Sie eine offene Debatte über Glaubwürdigkeit und Vertrauen zulässt. Das ist für uns als Wissenschaftler wichtig, weil wir entlang diesen Kriterien bewertet werden. Alles Gerede von der "Bildungsrepublik Deutschland" wird karikiert, wenn diese Debatte nicht geführt wird.
Ist Guttenbergs Rücktritt eine Bedingung dafür, dass diese Debatte geführt werden kann?
Das ist weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung. Aber es würde vieles vereinfachen. Die Anwesenheit von Herrn Guttenberg hindert uns, in der Sache weiterzukommen.
Im Brief heißt es, die Kanzlerin "verhöhne" die Doktoranden. Was meinen Sie damit?
Sie lässt einen ihrer tatkräftigsten und populärsten Mitarbeiter ein Vergehen durchgehen, wofür vom Schüler bis zum kurz vor dem Ruhestand stehenden Angestellten jedem drastische Konsequenzen drohen - wenn man die Ideen von anderen klaut. Diese ungerechte Behandlung macht uns so sauer.
Geht es bei Ihrer Initiative nicht nur um Selbstschutz und Eigennutz des Wissenschaftsstandes?
Es geht um Selbstschutz, weil hier die Glaubwürdigkeit unserer Qualitätskriterien infrage gestellt werden. Wir müssen uns Gedanken darüber machen, ob Titel nur für gesellschaftlichen Status oder für wirkliche wissenschaftliche Leistungen vergeben werden.
Der Betreuer einer Doktorarbeit ist zugleich auch Prüfer. Stimmt dieses Prinzip noch?
In anderen Ländern werden wissenschaftliche Arbeiten durch eine vom Doktoranden unabhängige Kommission bewertet. Darüber sollte man auch bei uns nachdenken. Die enge Beziehung von Doktorvater und seinem Zögling ist ein Relikt unserer Wissenschaftsgeschichte.
Guttenberg will seine Dissertation quasi nebenher geschrieben haben. Geht das nicht vielen Doktoranden so?
Das Leben von wissenschaftlichen Mitarbeitern und Promovenden ist selbst gewähltes Prekariat. Arbeit und Promotion zu vereinbaren ist nicht immer einfach. Trotzdem passieren einem solche Fehler nur, wenn man sie vorsätzlich macht oder seine Promotion schlafend schreibt. Anders kann man nicht erklären, wie jemand Erstsemester-Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens vergisst.
Wissen Sie, ob die Universität Ihre eigene Dissertation auf Plagiate untersuchen wird?
Bis vor einer Woche wusste ich das nicht. Ab jetzt nehme ich das stark an.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann