: Offene Rechnung in der Geschichte
Homosexuelle Opfer des Nazi-Regimes konnten auch nach 1945 nicht mit ihrer Rehabilitierung rechnen. Zum ersten Mal wird dazu in Berlin eine Studie vorgelegt
Bis heute gibt es offene Rechnungen in der Geschichte. Zumindest eine von ihnen wurde im Landesarchiv Berlin vor großem Publikum aufgemacht: Das Schicksal von unter den Nazis verfolgten Homosexuellen nach 1945. Historiker gehen von etwa 50.000 homosexuellen NS-Opfern aus. Geschätzt wird, dass 5.000 davon aus Berlin waren. 1945 erlebten sie die Befreiung vom Faschismus, nicht aber die Befreiung vom NS-Recht. Ihre Anerkennung als Opfer und ihre Rehabilitierung haben sie aufgrund der rigiden Gesetzgebung zu Homosexualität, die in der Bundesrepublik erst 1969 geändert wurde, meist nicht mehr erlebt. Denn bis zu diesem Zeitpunkt blieb das NS-Sonderstrafrecht gegen Homosexuelle in der BRD erhalten. Schwule, die unter den Nazis verurteilt wurden, wurden als Kriminelle behandelt. Auch nach 1945 galten sie als vorbestraft.
Fast 60 Jahre nach Ende des Krieges hat der Kulturwissenschaftler Andreas Pretzel eine erste wissenschaftliche Studie vorgelegt, die die meist vergeblichen Bemühungen der Betroffenen um Tilgung des Unrechts nachzeichnet. „NS-Opfer unter Vorbehalt. Homosexuelle Männer in Berlin nach 1945“ ist der Titel des Buches. Darin wird nicht verschwiegen, dass im Falle der Homosexuellen die Bundesrepublik mitunter das Werk der Nazis vollendete.
„Die Hitlerei vernichtet mich erst jetzt.“ Mit diesen Worten hat der Jurist Kurt Gudell 1952 seiner Wut, aber auch seiner Verzweiflung Ausdruck verliehen. Er ist einer von vielen, die dies erlebten. Jahrelang kämpfte er um die Rückgabe seines ihm 1938 entzogenen Doktortitels. Die Aberkennung kam faktisch einem Berufsverbot gleich. Auch die Staatsbürgerschaft war ihm entzogen worden. Seine Wiedereinbürgerung erreichte er im Jahr 1951, die Rückgabe seines Doktortitels erst 1962. Da war er bereits 64 Jahre alt. Zwei Jahre später starb er.
Bei der Vorstellung des Buches, einer Veranstaltung des Landesarchivs Berlins zusammen mit dem Aktionsbündnis Magnus-Hirschfeld-Stiftung, dem Schwulen Museum und dem Lit-Verlag, erinnerte der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit in seiner Eröffnungsrede daran, dass Toleranz und Offenheit gegenüber Homosexuellen in der Gesellschaft auch heute nicht für immer garantiert seien. WALTRAUD SCHWAB