Ökonomie und Jamaika: Erstmals allgemeine Verunsicherung
Das Scheitern von Jamaika steckt die Wirtschaft weg. Doch unklare Zeiten sind für die stabilitätsverwöhnten Exportweltmeister neu.
Das Aus für Jamaika wirft viele Fragen auf. Muss sich die Wirtschaft jetzt auf turbulente Zeiten einstellen? Gerät der Reformkalender der EU durcheinander? Und was soll jetzt aus dem Euro werden?
Für Peter Bofinger, Wirtschaftsweiser und Volkswirtschaftler an der Uni Würzburg, wohnt im Scheitern von Jamaika eher Gutes inne: „Bei den Herausforderungen, vor denen wir stehen, wären faule Kompromisse gefährlich gewesen. Das größte Risiko wäre eine politische Paralyse gewesen“, sagt er im Gespräch mit der taz. Ausgerechnet die FDP stellt mit ihrem Abbruch der Sondierungen die deutsche Wirtschaft vor eine völlig unbekannte Situation.
Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik scheiterte eine Regierungsbildung nach der Bundestagswahl. Bisher galt die politische Stabilität in Deutschland neben der guten Infrastruktur als einer der Garanten des ökonomischen Erfolgs. Da nehmen Konzerne auch gern höhere Löhne in Kauf, so die allgemeine Erzählung – auch wenn die Story längst bröckelt, weil sich Deutschland im europäischen Vergleich zu einem Billiglohnland entwickelt.
Dennoch, so sehen das viele Beobachter, die deutsche Wirtschaft verträgt das politische Hin und Her vorerst ohne Probleme. Natürlich sei diese Unsicherheit Gift, sagt Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank, von einem Schock könne man aber kaum sprechen, bei vier Wochen wackeliger Sondierungen.
Dass der Dax nach dem Jamaika-Ende kurz hüstelt, interessiert in der Realwirtschaft ernsthaft niemanden. Zumal die Kurse ohnehin maßgeblich von der Europäische Zentralbank abhängig sind, die mit ihrer lockeren Geldpolitik weiter macht. Der Dax zuckelt weiter um sein Allzeithoch. Selbst wenn jetzt „Katerstimmung statt Jahresendrallye“ herrscht, wie es ein Portfoliomanager ausdrückt – für Nicht-Aktionäre, selbst für langfristig orientierte Anleger ist derartiges Börsengeruckel egal.
Emmanuel lebt!
Das ifo-Institut in München sieht denn auch keine kurzfristigen Auswirkungen des Scheiterns der Sondierungen auf die Konjunktur. Dafür stimmen auch die sonstigen Rahmenbedingungen zu sehr: Der Weltwirtschaft geht es trotz Brexit, Trump und Koreakrise relativ gut, für die deutschen Exportfirmen wäre eine Wachstumsschwäche in China wahrscheinlich deutlich gravierender als Neuwahlen in Deutschland.
Für Bofinger ist das Scheitern von Jamaika eine Chance auf eine aktivere staatliche Industriepolitik und mehr öffentliche Investitionen in Bildung und digitale Infrastruktur. „Jamaika hätte das Geld womöglich für unnötige Steuersenkungen verbraten“, sagt er – und sieht gerade europapolitisch Chancen. Schließlich stehe Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron für weniger Steuerwettbewerb in Europa, einen Mindestpreis für den Ausstoß an CO2 und eine europäische Industriepolitik. „Wenn die FDP an die Macht kommt, bin ich tot“, soll Macron mit Blick auf seine ehrgeizigen Reformpläne im Herbst gesagt haben.
Diese Gefahr scheint nun, nach dem Ausstieg der FDP, gebannt. Glücklich ist Macron dennoch nicht. „Es ist nicht in unserem Interesse, dass sich das verkrampft“, sagte er am Montag in Paris über die Entwicklungen in Deutschland. Ohne Merkel, das weiß auch Macron, kann er in der EU nichts bewegen.
Hier offenbart sich das für die Wirtschaft langfristig größere Problem: Dass es Europa nicht schafft, wegen der Regierungskrise in Deutschland die verabredeten EU-Reformen einzuleiten und den Euro dauerhaft zu stabilisieren.
„Deutschland mag zwar heute wirtschaftlich sehr gut dastehen, aber die Herausforderungen sind enorm: Die neue Bundesregierung muss endlich auf seine europäischen Partner zugehen und Verantwortung für europäische Reformen übernehmen“, sagte Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, der taz.
Die EU-Kommission setzt zwar auf Stabilität: „Es gibt im deutschen Grundgesetz wegen der Geschichte des Landes eine Basis für Stabilität und Kontinuität“, sagte ein Kommissionssprecher.
Doch der Schock über das nicht erwartete Scheitern von „Jamaika“ sitzt tief. Haushaltskommissar Günther Oettinger (CDU) hat sich ebenso für „Jamaika“ ausgesprochen wie Martin Selmayr, die rechte Hand von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker.
Gleich nach der Bundestagswahl hatte Selmayr sogar einen Tweet abgesetzt, in dem er die Jamaika-Flagge zeigte – eingerahmt von zwei Europafahnen. Das Berliner Bündnis ist gut für Europa, so die augenzwinkernde Botschaft. Nun ist es geplatzt – und Selmayr auf Tauchstation. Statt sich selbst zu äußern, retweetete Junckers mächtiger Kabinettschef einen Kommentar unter dem Motto „Ruhe bewahren“. Das dürfte auch die Devise für die EU sein.
Auch der Brexit könnte leiden
Bisher hatte sich die EU-Kommission fast ausschließlich auf Deutschland und auf Kanzlerin Angela Merkel verlassen. Zuletzt waren Juncker & Co. der CDU-Chefin noch bei den neuen Klimaschutz-Vorgaben für PKW entgegen gekommen – sie wurden deutlich abgeschwächt. Nun könnte Juncker seine mächtigste Verbündete abhanden kommen. Deshalb ist man in Brüssel bemüht, den Schaden zu begrenzen und „Business as usual“ zu machen.
Dabei könnte die EU-Agenda nun durcheinander geraten. Bereits beim EU-Gipfel im Dezember steht die umstrittene Reform der Euro-Währungsunion auf dem Programm. Sie wird warten müssen, denn Berlin ist nicht handlungsfähig. Auch der Brexit – der britische EU-Austritt – könnte unter der Krise in Berlin leiden. Denn ohne deutsche Zustimmung kann die EU den Briten keine Zugeständnisse machen, die sie so dringend brauchen.
Chance für Auslaufmodell
Die Unsicherheit für die Wirtschaft über den nationalen Kurs in Deutschland überträgt sich also nahtlos auf die europäische Ebene. Wobei der deutsche Sicherheitsfetisch – vier Jahre Koalitionstreue, komme was wolle – vielleicht ein Auslaufmodell ist. Zumindest das Münchner ifo-Institut tastet sich gedanklich schon mal an neue Zeiten ran. Möglicherweise gebe es jetzt eben eine Minderheitrsregierung, sagt ifo-Präsident Clemens Fuest.
Das bringe Risiken, aber auch Chancen. „Die Chance besteht darin, dass die Rolle des Parlaments gestärkt wird und über einzelne politische Entscheidungen ausführlicher und offener diskutiert wird“, schreibt er.
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