: Ökonomie der Trauerarbeit
■ Die Psychologie der Wende und die Wende der Psychologie
„Die Revolution hat ihre orale Phase gehabt und ist auf der analen Stufe stehengeblieben. Dort wurde der Widerstand zwanghaft abgewürgt. Die Gesellschaft hat ihre genitale Reife nicht erreicht.“ Mit provozierender Begrifflichkeit sucht der Hallenser Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz der Diskussion über die Psychologie der Wende Zündstoff zu geben.
Angesichts der flauen Podiumsdiskussion über Maaz‘ Thesen in der Evangelischen Akademie Oldenburg rief der Psychologe Heinrich Hagehülsmann (Uni OL) zum kollektiven Ärgern auf. Ein Diskussionsteilnehmer gehorchte prompt: „Diese Scheiß -DDRler, daß die nicht mal ihr Wir-sind-das-Volk durchgehalten haben. Ich hab gehofft, wir könnten lernen von denen - wie kippt man eine Scheiß-Regierung?“ Wie anders sollte sich die Malaise der deutschen Linken artikulieren als in analen Metaphern?
Allerdings scheine gerade der DDR die Zeit zur notwendigen Trauer-Arbeit zu fehlen, so Maaz weiter, um die in vierzig Jahren chronifizierte Kollektivneurose abzubauen. Gerade die DDR-typische „depressiv-gehemmte“ Charakterstruktur, die in der Wi
derstands-Form des Sich-Verweigerns den raschen Zusammenbruch des Systems herbeigeführt habe, drohe dem DDR -Neurotiker in der Marktwirtschaft endgültig zum Verhängnis zu werden. Dort nämlich sei eher der „dynamisch-sportliche“ oder „narzißtisch-hysterische“ Typus gefragt. Die Forderung aber, die „Zeit anzuhalten“, um die Deutschen zunächst kollektiv zu therapieren, bleibt utopisch.
Wo zurecht verlangt wird, die Psychologie möge nun wieder politisch werden, wird ebenso angemerkt, daß die Anwendung therapeutischer Terminologien auf soziologische Prozesse nur die deutsche Nabelschau ins Unendliche verlängere. So zeigte die Diskussion über die Massenpsychologie der Wende die Notwendigkeit, die Begrifflichkeit von Sozialanalysen neu zu überdenken.
Alexander Puschmann
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