■ Oekolumne: Ethik für Zukunft Von Jérôme Bindé
Moderne Gesellschaften leiden an einem verkorksten Verhältnis zur Zeit. Sie kämpfen mit einem riesigen Widerspruch: Einerseits müssen sie sich selbst in die Zukunft fortdenken, um überleben und prosperieren zu können. Andererseits verlangen Globalisierung und neue Technologie Kurzzeitstrategien von ihnen, das Handeln in Echtzeit. Es scheint kein Entkommen mehr vor der Tyrannei des Sachzwangs zu geben: Die Geldmärkte, Medien, Politik und selbst die Entwicklungshilfe marschieren in die gleiche Richtung. Langzeitperspektiven und mit ihnen die Idee eines gemeinsamen großen Projekts, sie scheinen verschwunden zu sein. Sachzwang heißt der Weg zur Zerstörung der Zeit, die aktive Negierung von Utopie. „Weltweit beanspruchen die Menschen des Heute den Vortritt vor den Menschen von morgen, auch wenn es deren Zukunft oder gar ihre Existenz gefährdet“, hat Unesco-Generaldirektor Frederico Mayor gesagt.
Der Sachzwang ist nicht nur eine Mode, die Logik des Sachzwangs ist zum permanenten Teil unserer Gesellschaft, unserer Politik geworden, und sie verlangt nach Resultaten. Doch die Widersprüche der Entwicklungshilfe oder die steigende Arbeitslosigkeit in Europa zeigen auch, daß die Logik des Sachzwangs für Langzeitprobleme zumindest keine Lösung bietet.
Wie können wir ein Gefühl für Zeit in Zeiten der Geschwindigkeit und der Globalisierung wiederbeleben? Ich sehe zwei Hindernisse. Das eine ist die ethische Dominanz des heutigen Gesellschaftsvertrags. Der sieht gegenseitige Verpflichtungen nur für Zeitgenossen vor, zukünftige Generationen kommen nicht vor. Eine Ethik der Zukunft würde die ethische Gemeinschaft um die Menschen der Zukunft erweitern. Das zweite Hindernis ist die Kurzsichtigkeit der Jetztzeit, die uns von Zukunft und Vergangenheit abschottet. Vor allem im Westen dient die Geschwindigkeit der Veränderung noch zur Entschuldigung für die Blindheit gegenüber der Zukunft und den Unwillen, Zukunft überhaupt zu denken. Da wundert es kaum noch, daß unsere Gesellschaft ohne Zukunft ein Loblied auf die Flexibilität singen. Die Kultur des „Just in time“ steht im Widerspruch zu jeder Langzeitstrategie.
Eine Ethik der Zukunft verlangt mehr als Langzeitvisionen. Sie verlangt, heute Verantwortung für die entfernte Zukunft zu übernehmen. Das Erbe von Natur und vergangenen Generationen ist fragil und vergänglich: Leben, Erde, die Stadt. Wir müssen unsere soziale Fabrik um zukünftige Generationen ergänzen. Unser Verantwortungsbewußtsein ist eine Bedingung für ihre Chance zu überleben.
Eine Ethik der Zukunft verlangt, das Vorsorgeprinzip endlich anzuwenden, bei unserem Handeln alle möglichen Konsequenzen im Auge zu haben, auch die unwahrscheinlichen. Wir müssen mit Risiken umgehen lernen. Überlieferung reicht über alte Steine und Bücher hinaus. Es schließt das Unbeschreibbare, das Symbolische, das Ethische, das Ökologische und Genetische ein. Überlieferung ist eines der Fundamente menschlicher Verantwortung für zukünftige Generationen. Wenn die Verbindung zwischen Zukunft und Vergangenheit fehlt, wird jeder Verweis auf Traditionen zur Ideologie oder gar zum Fundamentalismus. Verantwortung für die Zukunft hat weitreichende politische Konsequenzen. Schon Max Weber warnte, „das eigentliche Geschäft des Politikers ist die Zukunft und seine Verantwortung für die Zukunft“. Wir müssen einen Kurs steuern, der uns zukünftigen Horizonten näherbringt mit Projekten, die in die Zukunft hineinragen. Eine Ethik der Zukunft rehabilitiert die Zeit, nicht nur die Zukunft, auch Vergangenheit und Gegenwart.
Diejenigen, die die Situation der Armen und Entrechteten wegblenden wollen, sind oft die gleichen, die das Verschwinden alter Sprachen oder das Ozonloch für kein Thema halten. Teilen in der Gegenwart und sich sorgen um die Zukunft, das gehört zusammen. Eine Ethik der Zukunft muß sich auf Erziehung, Wissenschaft, Technologie, auf Finanzen und die Politik auswirken, muß Fundamente legen für eine humane und nachhaltige Entwicklung. Für viele Kinder von heute wird lebenswerte Zukunft erst mit einer Ethik der Zukunft erreichbar. Craig Kielburger, der 14jährige Gründer von Free the Children, trifft den Punkt. „Es braucht auch Kinder, um ein Dorf zu bauen.“
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