ÖSTERREICH: SCHWARZ-BLAUE REGIERUNG ENTSCHÄDIGT ARISIERUNGSOPFER: Billig davongekommen
180 Milliarden Schilling, über 25 Milliarden Mark, hatte der Entschädigungsanwalt Ed Fagan in Sammelklagen für seine Mandanten einfordern wollen. Das ist 25-mal mehr, als die österreichische Bundesregierung im jetzt unterzeichneten Abkommen schließlich zu geben bereit war. Der tatsächliche Wert des unter dem Euphemismus „Arisierung“ enteigneten Vermögens belief sich nach den akribischen Aufzeichnungen der Ostmark-Beamten auf mehrere Milliarden Reichsmark. Wie viel das nach heutigem Geld wert ist, versucht eine Historikerkommission herauszufinden, deren Endbericht jedoch erst Mitte 2002 vorliegt. Man kann aber davon ausgehen, dass die Wiener Bundesregierung billig davongekommen ist – auch wenn sie den Anteil der Privatwirtschaft zumindest vorschießen muss.
Obwohl Wirtschaftskammerpräsident Josef Leitl angekündigt hat, dass sich die Unternehmen sicher beteiligen würden, kann man davon ausgehen, dass die Privaten nicht ihre Spendierhosen anziehen werden, wenn es um die Entschädigung für die Arisierungen geht. Denn auch die Beiträge der Wirtschaft für die Zwangsarbeiterentschädigung, die schon im Vorjahr beschlossen wurde, fließen nur sehr zögerlich.
Trotzdem verweist Bundeskanzler Wolfgang Schüssel stolz auf den Verhandlungserfolg. Doch setzt er sich diese Lorbeeren zu Unrecht auf. Es war sein Vorvorgänger Franz Vranitzky (SPÖ), der 1991 als erster Bundeskanzler die österreichische Mitschuld an den Naziverbrechen eingestand und 1995 den Nationalfonds für Entschädigungszahlungen gründete. Die Historikerkommission, die diese dunkle Vergangenheit aufarbeiten und Grundlagen für Restitutionen liefern soll, wurde 1998 von Viktor Klima (SPÖ) eingesetzt.
Nachdem die Schweiz für die stillschweigend einbehaltenen jüdischen Konten und Deutschland für Zwangsarbeit und Enteignungen zahlen mussten, hätte sich wohl keine österreichische Regierung ihrer Verantwortung entziehen können. Das Kapitel „Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit“ im Koalitionspakt mit der FPÖ wurde wortgleich aus dem geplatzten Koalitionsabkommen mit der SPÖ übernommen. Dass es jetzt vergleichsweise schnell ging, hat auch damit zu tun, dass die FPÖ-ÖVP-Regierung von den anderen EU-Staaten, den USA und Israel aufs Genaueste beobachtet wurde. Jörg Haiders Truppe hatte die willkommene Gelegenheit, zu beweisen, wie sehr sie auf der Seite der Naziopfer steht. Zu welchem Preis, wissen wir noch nicht. Vielleicht kommen ja demnächst Entschädigungsforderungen für Sudetendeutsche und Wehrmachtsangehörige.
RALF LEONHARD
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