Occupy-Bewegung: Die Asamblea macht sich an die Arbeit
Eine Woche nach Beginn der Antibankenproteste kommen wieder mehrere hundert Menschen zur Reichstagswiese und diskutieren.
Oskar ist 5 Wochen alt und zum ersten Mal auf einer Demo. Sie scheint ihn nicht sonderlich zu interessieren: Er schläft. Seine Eltern, Annika und Felix, beide um die 30, sind aktiver: Sie haben ein Schild mitgebracht, auf dem "Das Leben ist kein Bonihof. Finanztransaktionssteuer jetzt!" steht. Felix sagt, er habe sich für die Forderung nach einer Steuer auf Finanztransaktionen entschieden, weil mit dieser einen Maßnahme sehr viel bewirkt werden könne. Das müssten nun auch die Parteien begreifen. Annika fügt hinzu, sie sei auf die Reichstagswiese gekommen, um zu zeigen, dass die große Demonstration am letzten Samstag kein Zufall war.
Insgesamt gingen am Samstag in Berlin wieder gut 800 Menschen auf die Straße - deutlich weniger als die von den Veranstaltern erhofften Tausende. Vom Roten Rathaus zogen die Demonstranten zum Brandenburger Tor und von dort zur Reichstagswiese. Die hatte sich in der vergangenen Woche zum Zentrum der Berliner "Occupy"-Bewegung entwickelt. Jeden Tag trafen sich hier zwischen 50 und 200 Menschen, um miteinander zu diskutieren.
Bei der siebten "Asamblea" am Samstag geht es oft um die Perspektiven von "Occupy". Ein Streitpunkt, der immer wieder aufkommt, ist die Zusammenarbeit mit Organisationen und Parteien. Fahnenträger von der Linkspartei werden wiederholt gebeten, ihre Fahnen herunterzunehmen. Dennoch fordern einige eine verstärkte Einbindung von Organisationen wie Attac oder den Gewerkschaften. Man könne von ihnen lernen, als Bewegung erfolgreich zu sein, sagt ein junger Mann und schiebt hinterher: "Ich bin übrigens in keiner Partei oder Organisation!" Ein anderer ruft, man solle sich nicht zu sehr an das System anpassen, das man stürzen wolle.
Katrin, 50 Jahre alt, will gar keinen Systemumsturz. Sie ist Lehrerin und beobachtet die "Occupy"-Bewegung seit der großen Demonstration am 15. Oktober. Sie wolle ihren Schülern am Gymnasium vermitteln, dass es in einer Demokratie wichtig sei, miteinander zu reden. Katrin sieht in "Occupy" eine neue Bürgerbewegung und hofft, dass diese noch größer wird. Allerdings, kritisiert sie, sei es vielen Menschen ihrer Generation kaum möglich, sich aktiv in die Bewegung einzubringen. Wenn Absprachen nur über Facebook und Blogs getroffen werden, sagt sie, vergäben die jungen Organisatoren die Chance, auch ältere Menschen für die neue demokratische Bewegung zu begeistern.
Ein weiteres großes Thema sind Projektgruppen. Während es einige in der Asamblea für viel zu früh halten, sich in Arbeitsgruppen aufzuspalten, sind ein paar dieser Gruppen schon seit Tagen aktiv. Das Spektrum der AGs ist breit: Genderfragen, Kommunikation mit der Polizei, Arbeitskämpfe, Geld und internationale Vernetzung und mehr. Die AG Campen etwa arbeitet an einem neuen Antrag auf ein dauerhaftes Protestcamp. Die Internetgruppe hat schon konkrete Ergebnisse geliefert: Es gibt nun zwei neue Homepages, ein direktes Sprachrohr der Asamblea (www.occupyberlin.info) und eine, die verschiedene Projektgruppen miteinander vernetzt (www.occupyberlin.org).
So scheint sich die Bewegung langsam zu strukturieren. Florian, 40-jähriger Softwareentwickler, springt irgendwann auf und erzählt, was in der letzten Woche passiert ist. Dabei kommt unter anderem der nach einem Asamblea-Stimmungsbild beschlossene Verzicht aufs Zelten ohne Genehmigung zur Sprache. Außerdem betont Florian wie viele an diesem Nachmittag, dass Occupy keine Führer habe und brauche und jeder willkommen sei, sich einzubringen. Er sei optimistisch, dass auch in den nächsten Tagen immer um 17 Uhr Menschen zur Versammlung kommen werden. "Der Winter kann kommen, wir werden nicht weichen, weil wir die 99 Prozent sind", ruft er am Ende nicht ohne Pathos und streckt die geballte Faust gen Himmel.
Annika und Felix wollen auf jeden Fall wiederkommen. Nicht jeden Tag, das sei mit Oskar dann doch zu anstrengend, sagt Annika. Aber auch sie sind überzeugt, dass hier etwas Neues und Besonderes wächst.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken