Obdachlose: Zaun weg, Zank bleibt
Am Freitagnachmittag wurde der Stahlzaun, der in Hamburg-St. Pauli Obdachlose und Punks vor dem Übernachten unter einen Brücke abhalten sollte, weggeflext.
HAMBURG taz | Der Zaun gegen Obdachlose unter der Kersten-Miles-Brücke in Hamburg-St. Pauli steht nicht mehr. Um viertel vor Vier am Freitag haben fünf Handwerker das letzte verzinkte Zaunteil weggetragen. Zuvor hatte der Zaun zehn Tage lang viele Menschen in Hamburg empört. Es gab Protestaktionen, Bürgerschaft und Senat sprachen sich gegen den Zaun aus, den der Leiter des Bezirks Hamburg-Mitte, Markus Schreiber (SPD), hatte aufstellen lassen. Ein Moderationsgespräch soll den Streit schlichten. Am Freitag traf sich Schreiber mit dem Schlichter Hans-Peter Strenge, Synodenpräsident der Nordelbischen Kirche. Vertreter der Obdachloszeitung Hinz&Kunzt hatten den Abriss oder zumindest die Teilöffnung zur Teilnahmebedingung gemacht.
Nun fliegen am Freitag die Funken, als der junge Metallbauer mit den langen Haaren die Pfosten und andere Zaunteile losflext. Er hat eine ganze Packung Scheiben für seinen Winkelschleifer mitgebracht. Zuvor lockerten seine Kollegen mit einem Presslufthammer und Spaten die Pflasterung um den Zaun herum. Der Metallbauer möchte seinen Namen nicht nennen, doch er erzählt, dass seine Firma den Zaun auch hergestellt und aufgebaut habe. Er erlebe es nicht zum ersten Mal, dass er einen selbst aufgebauten Zaun schnell wieder abbauen müsse, sagt er. "Wir haben schon Zäune in Gefängnissen angebracht für Umbaumaßnahmen."
Bezirkschef Schreiber hat den Zaun für 18.000 Euro errichten lassen. Seine Begründung: Die Obdachlosen, die dort schliefen, würden einen "Angstraum" schaffen. Zunächst hatte der Bezirk versucht, die Obdachlosen mit einem Umbau zu vertreiben: Das kostete 100.000 Euro - und die Wohnungslosen blieben.
Die Demo: Am Freitag, den 23. September demonstrieren nach Polizeiangaben 1.250 Hamburger gegen den Zaun, der zu diesem Zeitpunkt seit drei Tagen steht.
Die Schönheitskur: Am Samstag legen sie Trauerkränze nieder, Blumen, Protestplakate und Stoffpuppen.
Die Säuberung: Am Montag wird die Fläche geräumt, nur der Zaun bleibt stehen - und der Ordnungsdienst.
Der gute Wille: Hans-Peter Strenge von der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche soll ein Moderationsverfahren leiten, heißt es am Dienstag.
Der Eklat: In der Bürgerschaftssitzung am Mittwoch stellen sich alle Parteien gegen Schreiber, am Ende auch SPD-Sozialsenator Detlef Scheele.
Die Entscheidung: In einem Vorgespräch zum Runden Tisch zwischen Strenge und Schreiber am Freitag wird klar: Der Zaun muss weg.
Der Abbau: Um Punkt 14.20 Uhr rücken die Bauarbeiter mit Hammer, Flex und Meißel an.
Am Freitag sagte Schreiber abendblatt.de: "Wenn Senat und Bürgerschaft sich einstimmig gegen den Zaun aussprechen, kann ich als kleiner Bezirkschef nicht gegen die ganze Welt kämpfen." In der offiziellen Erklärung heißt es zum Verfahren: "Wir sind als Bezirk für alles offen, einzige Bedingung: Es darf kein Zurück zu den Zuständen geben, wie sie im letzten Jahr dort zu finden waren."
Stephan Karrenbauer, Sozialarbeiter bei Hinz&Kunzt, sagt: "Ich begrüße sehr, dass der Zaun abgebaut und der Weg jetzt bereitet ist für konstruktive und offene Gespräche, an denen wir teilnehmen werden." Es werde vermutlich zwei bis drei Gespräche geben, in denen nach Möglichkeiten gesucht werde, wie den Menschen geholfen werden könne, die unter der Brücke schlafen wollten. "Ich glaube, dass wir zu einem guten Ergebnis kommen werden."
Etwas skeptischer bleibt Cansu Özdemir, die sozialpolitische Sprecherin der Linksfraktion in der Bürgerschaft: "Es bleibt abzuwarten, welche Alternativlösung Bezirksamtsleiter Schreiber für die Brücke vorschwebt", sagte sie. Daran, dass er dort keine Obdachlosen dulden wird, habe er keinen Zweifel gelassen.
Das Bündnis "Der Zaun muss weg" muss sich nun einen neuen Namen suchen. Weiter machen will es auf jeden Fall: Die für Samstag angesetzte Demonstration finde trotz des Abbaus des Zauns statt, sagt Bündnis-Sprecher Andreas Gerhold. "Wir befürchten, dass Herr Schreiber an anderer Stelle mit seiner Law-and-order-Politik weitermachen wird", sagt Gerhold und meint damit die geplante Räumung des Bauwagenplatzes Zomia und die Vertreibung von Sexarbeiterinnen aus St. Georg und St. Pauli.
Sogar aus dem Umfeld der Hamburg Tourismus GmbH war zu erfahren, dass man auch dort den Abbau des Zauns begrüßt. Hamburg sei eine Stadt mit vielfältigen Facetten, zu der nicht nur Stärken gehörten, sondern auch Obdachlosigkeit. Das solle man nicht verleugnen.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach der Bundestagswahl
Jetzt kommt es auf den Kanzler an
Wahlsieg der Union
Kann Merz auch Antifa?
Alles zur Bundestagswahl
Oma gegen rechts hat Opa gegen links noch nicht gratuliert
Die Grünen nach der Bundestagswahl
„Ja, pff!“
Sieger des rassistischen Wahlkampfes
Rechte Parolen wirken – für die AfD
Habecks Rückzug
Quittung für den angepassten Wahlkampf