Nur wenige Tage vor dem Maastricht-Referendum in Frankreich:: Europas Währungen wirbeln durcheinander
■ Pfund und Lira verlassen „vorübergehend“ das gemeinsame Wechselkurssystem. Einen Hauptschuldigen für die Sterling-Krise hat London in der Bundesbank ausgemacht, die mit ihrer Prophezeiung der Abwertung zur Kapitalflucht aus Großbritannien beigetragen habe.
Im Europäischen Währungssystem (EWS) herrscht Chaos. Nach einer sechsstündigen Krisensitzung in der Nacht zu gestern beschloß der EG-Währungsausschuß in Brüssel, die spanische Peseta um fünf Prozent abzuwerten. Die italienische Lira und das britische Pfund Sterling scheiden mit Zustimmung der europäischen Finanzministerien und Zentralbanken aus dem Wechselkursverbund im EWS aus, wollen jedoch „so bald wie möglich“ zurückkehren. Ein Termin wurde allerdings nicht genannt. Ab sofort können die Kurse von Pfund und Lira frei schwanken und die bisherigen Interventionsgrenzen unterschreiten. Die Zentralbanken sind nicht mehr verpflichtet, nach den EWS-Regeln stützend einzugreifen. Darüber hinaus wurde der Devisenhandel in Italien bis Dienstag ausgesetzt.
Die Krisensitzung wurde vom britischen Finanzminister Norman Lamont einberufen, nachdem das Pfund — ebenso wie Lira und Peseta — in den vergangenen Tagen stark unter Druck geraten waren. Die Lira war erst am Sonntag um effektiv sieben Prozent abgewertet worden. Das war die erste Neufestsetzung der Wechselkurse im EWS seit 1987. Und die zweite folgte auf dem Fuße: Mit der Abwertung der Peseta sind zwei Anpassungen innerhalb von vier Tagen vorgenommen worden — ein bisher einmaliger Vorgang in der dreizehnjährigen Geschichte des EWS.
Lamont konnte die Abwertung des Pfundes, dessen Kurs-Schicksal mit dem Ausstieg aus dem Wechselkursverbund den Devisenmärkten überlassen wurde, nicht verhindern. Noch am Vortag hatte er getönt, daß er die britische Währung „unter allen Umständen“ in der festgelegten Bandbreite halten wolle. Doch auch Stützungskäufe am Mittwoch morgen in Höhe von fast 30 Milliarden Mark — ein Drittel der britischen Devisenreserven — konnten den Fall des Pfundes nicht aufhalten. Ein Sprecher der Bank von England kritisierte „die Verschwendung der Reserven für eine ohnehin verlorene Sache“. Am Vormittag verkündete Lamont daher eine Erhöhung der Leitzinsen um zwei auf 12 Prozent, die ebenfalls ergebnislos blieb. Am Nachmittag schraubte er die Zinsen gar auf 15 Prozent, nahm das am Abend jedoch wieder zurück, nachdem Großbritannien aus dem Wechselkursverbund ausgetreten war. Gestern früh wurde schließlich auch die erste Zinserhöhung wieder rückgängig gemacht.
Die Entlassung des „Jo-Jo-Ministers“, wie Lamont von der Opposition getauft wurde, ist jetzt wohl nur noch eine Frage der Zeit, weil das Pfund gestern mit 2,6435 Mark deutlich unter seinem früheren Interventionskurs von 2,7780 DM landete. Die Labour Party hat eine Sondersitzung des Parlaments erzwungen. Selbst Tory-Hinterbänkler fordern inzwischen Lamonts Rücktritt. „Er muß zugeben, daß seine Politik vermutlich von der Rezession in die Depression führt“, sagte der Tory-Abgeordnete Andrew Hunter.
Die Turbulenzen auf den Devisenmärkten haben den Euro-Gegnern in der Konservativen Partei starken Auftrieb gegeben. Sie wollen nicht nur dem Wechselkursverbund endgültig fernbleiben, sondern fordern darüber hinaus einen britischen EWS-Ausstieg und die Ablehnung der Maastrichter Verträge, die im November dem Unterhaus vorgelegt werden müssen. Lamont machte gerade die Unsicherheit über Maastricht vor dem französischen Referendum am Sonntag dafür verantwortlich, daß das Wechselkurssystem aus den Fugen geraten ist.
Einen Hauptschuldigen für die Sterling-Krise hat die britische Regierung auch in der Deutschen Bundesbank ausgemacht. In einem Telefongespräch am Mittwoch abend beschwerte sich Premierminister John Major bei Bundeskanzler Helmut Kohl darüber, daß Vertreter der Bundesbank seit August mehr oder weniger offen eine Abwertung des Pfundes prophezeit hätten. Das habe zur Kapitalflucht aus Großbritannien beigetragen und den Druck auf das Pfund verstärkt. Majors Empörung hatte ein brisantes Interview des Bundesbankpräsidenten Helmut Schlesinger mit dem Düsseldorfer Handelsblatt ausgelöst, das nach Ansicht von Finanzexperten erheblich zur Verschärfung der schweren Krise im EWS beigetragen hat. Das Handelsblatt hatte in einer am Dienstag abend an die Nachrichtenagenturen weitergeleiteten Zusammenfassung des Interviews berichtet, Schlesinger zufolge habe die am Montag erfolgte Abwertung der Lira die Probleme im Europäischen Währungssystem möglicherweise nicht endgültig gelöst. Man hätte die Lage an den Devisenmärkten stärker entspannen können, wenn die Wechselkurse auch anderer Währungen als der Lira gegenüber der Mark neu festgelegt worden wären.
Der Bundesbankpräsident hatte zwar schon in der Vergangenheit mehrfach zu verstehen gegeben, daß er ein umfassendes Realignment im EWS ökonomisch für vernünftig hält. In die nach dem ersten EWS-Realignment und der Abwertung der Lira äußerst nervösen Devisenmärkte platzte die Nachricht von dem Interview jedoch wie eine Bombe; die Äußerungen wurden als Signal dafür gewertet, daß Deutschland eine Abwertung weiterer EG-Währungen wünsche.
Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) sieht Großbritannien als Opfer der deutschen Wirtschaftspolitik. „Der Auslöser für die dramatischen Ereignisse ist die Tatsache, daß vor allem Deutschland, die USA und Italien nichts gegen ihre mittelfristigen Haushaltsprobleme unternehmen“, sagte der IWF-Wirtschaftsexperte Michael Mussa. Der IWF forderte die Bundesregierung auf, umgehend die versprochenen Maßnahmen zur Reduzierung des Haushaltsdefizits zu ergreifen. „Das ist die Grundbedingung dafür, daß der Druck auf die Zinsraten abgeschwächt wird“, heißt es im Monatsbericht. Gleichzeitig sagt der IWF jedoch eine deutsche Inflationsrate von 4,9 in diesem Jahr und 4,2 Prozent für 1993 voraus, wodurch der Spielraum der Bundesbank für Zinssenkungen stark eingeschränkt sei.
Der Staatssekretär im Finanzministerium, Horst Köhler, sagte gestern: „Die Bundesbank tut das, was sie für richtig hält.“ Erst am Montag hatte sie die Leitzinsen um ein Viertelprozent zurückgenommen, was im Ausland jedoch auf Enttäuschung gestoßen war, nachdem Gerüchte am Vortag auf eine einprozentige Senkung hingedeutet hatten. Köhler rechnet damit, daß sich die Märkte schon bald beruhigen werden. „Es gibt keinen Grund, in Skeptizismus oder Untergangsstimmung zu machen“, sagte er. Die EG-Regierungen hätten ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit demonstriert und ihren Willen bekräftigt, das bewährte EWS-System aufrechtzuerhalten. Der Währungsausschuß bezeichnete es gestern als „Schlüsselelement für wirtschaftliche Stabilität und Prosperität in Europa“.
Die Entscheidung von Brüssel wurde in Schweden am heftigsten kritisiert. Der Wirtschaftsexperte der Nordbank, Niels Lundgren, meinte: „Es war die schlechteste aller Lösungen, die schwachen Währungen abzuwerten. Das einzig Richtige wäre gewesen, die Mark gegenüber allen anderen Währungen aufzuwerten.“
Von der Kapitalflucht aus den schwachen EG-Währungen wie Pfund und Lira war auch die schwedische Krone betroffen. Zwar gehört Schweden nicht der EG und dem EWS an, hat seine Währung jedoch an die europäische Währungseinheit Ecu gebunden. In Stockholm berief Ministerpräsident Carl Bildt eine Krisensitzung des Kabinetts und aller Führer der Oppositionsparteien ein, nachdem die Reichsbank angekündigt hatte, sie werde den zur Refinanzierung der Banken dienenden Tagesgeldsatz auf die Rekordhöhe von 500 Prozent anheben. Diese Anhebung zeigte gestern bereits Wirkung. Ein Großteil des in den vergangenen Tagen abgeflossenen Kapitals kehrte zurück. Eine erste Anhebung von 25 auf 75 Prozent am Mittwoch vormittag war nicht ausreichend gewesen, um den Kapitalabzug aus Schweden zu stoppen.
Die dänische Krone ist gestern ebenfalls kurzzeitig unter Druck geraten. Sie gelangte allerdings nach Auskunft der dänischen Zentralbank bereits nach wenigen Minuten wieder in den Bereich der zulässigen Schwankungsbreite des EWS. Der stellvertretende Direktor der dänischen Zentralbank betonte, die Krone sei im Wert wieder gestiegen, ohne daß die Zentralbank interveniert hätte. Ralf Sotscheck
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