: Nur keine Panik
■ Kirche entläßt ihre Schäfchen auch nach dem 3.Oktober kostenlos/ Austrittswelle überlastet Gerichte
Berlin (taz) — Letzte Hochkonjunktur für Ostberliner Gerichte und deren Notariate: tausende DDR-BürgerInnen erklären aus Angst vor der Kirchensteuer und den Gebühren der westlichen Behörden derzeit ihren Kirchenaustritt. „Nächste Woche soll das 70 Mark kosten,“ erklärt einer, warum er die lange Wartezeit auf sich nimmt. Die Gerüchteküche brodelt. Die Kirchensteuer soll 16 Prozent des Einkommens betragen, will einer wissen. Direktorin Ernst vom Stadtbezirksgericht Hohenschönhausen versucht die Flut von Anträgen einzudämmen: „Es muß nur aus der Kirche austreten, wer getauft ist.“ Wie er denn beweisen solle, daß er nie getauft wurde, fragt ein aufgebrachter Mann. „Ein Kollege von mir war in der Littenstraße im Haus der Gerichte, und die haben gesagt, auch wer nicht getauft ist, müsse aus der Kirche austreten.“ Auf so viele Einwände kann Frau Ernst nur mit Ratlosigkeit reagieren. Zum Dienstschluß um 18 Uhr beantragt sie vorsichtshalber Polizeischutz. Notar Herzig hat seit Tagen Herzschmerzen und weiß nicht, wie er den Andrang überhaupt noch bewältigen soll. Panik greift um sich, nichts kann wichtiger sein als die schriftliche Bestätigung, kein Christ zu sein.
Absurdum des Bürokratismus, denn vor allem Menschen, die seit langem keine Kirchenmitglieder mehr sind, treten aus, weil sie keine Bescheinigung haben. Der theologische Leiter der evangelischen Kirchenbehörde für Ost-Berlin, Hans-Otto Furian nimmt die Kirchenaustritte gelassen. „Von 5.762 Menschen, die in Berlin ausgetreten sind, kennen wir 4.500 überhaupt nicht.“ Der Rest hat zum großen Teil noch nie Kirchensteuer bezahlt. In Frankfurt seien unter 98 Austritten nur drei wirkliche Kirchenmitglieder und Steuerzahler gewesen, so Hans-Otto Furian. Davon seien zwei wieder eingetreten, nachdem sie erfahren hätten, daß sie nach bundesrepublikanischem System weniger Kirchensteuer als vorher bezahlen müssen. „Solange wir noch die niedrigen Gehälter haben, wirkt sich das erstmal positiv aus.“ Hans-Otto Furian zahlt ab 3. Oktober 120 Mark pro Jahr weniger als bisher ins Kirchensäckel.
Beruhigung für Kirchenflüchtige kommt auch von Cornel Christofel, Pressesprecher der Justizsenatorin Limbach: „Kirchenaustritte kosten auch nach dem 3. Oktober nichts.“ Lediglich ein Formular müsse man ausfüllen. Im Moment sind dafür noch drei notwendig. Endgültige Entwarnung kommt aus dem Finanzministerium der DDR: Dokumente sind nicht nötig, um die Nichtmitgliedschaft in der Kirche zu beweisen. Karin Mayer
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen