■ Gegen die Extremismus-Hysterie nach der Berliner Demo: Nur ein paar fatale Minuten
Ehe die Medienpropaganda „300 Autonome machen die Demonstration von 300.000 Demokraten kaputt“ den Charakter eines umumstößlichen Stereotyps gewinnt, sei noch einmal ein kurzer, nüchterner Blick darauf erlaubt, was sich am Sonntag wirklich abgespielt hat. Zieht man die Summe aus vielen Gesprächen während der Demo, aus den mitgeführten Transparenten, aus den am häufigsten skandierten Parolen, so wird klar, daß die mitmarschierenden Politiker der großen Parteien einen sehr unangenehmen Nachmittag zu überstehen hatten. Der Vorwurf regierungsamtlicher wie SPD-oppositioneller Heuchelei war keineswegs auf den Autonomenblock beschränkt. Die Demonstration war beherrscht von der Forderung, das individuelle Recht auf Asyl samt der dazugehörenden Rechtsweggarantie beizubehalten, es, um den gravitätischen Begriff des AL-Posters zu zitieren, zu „bewahren“. Damit korrigierten die Demonstrationsteilnehmer erfolgreich den Minimalkonsens der Veranstalter.
Gleichzeitig glichen beide Demonstrationen, vor allem aber die östliche, einer Feiertagsidylle, bar jeder Aggression, bar jedes Antriebs, es der politischen Klasse „mal zu zeigen“. Speziell von Weizsäcker wurde überall freundlich begrüßt. Die Kundgebungspfiffe, die die Ansprache der Quedlinburger Bürgerrechtlerin ebenso untermalten wie die Rede des Bundespräsidenten, kamen ausschließlich aus der – günstig plazierten – Autonomenecke: von ein paar Tausend junger Leute, denen es vor allem um sich selbst, um die „Reinheit“ ihres Antifaschismus zu tun war, den es vor den Anmaßungen der Hunderttausende mindestens ebenso zu verteidigen galt wie vor der Staatsmacht. Nicht über sie lohnt es zu reden, sondern über die Reaktionen der übergroßen Mehrheit. Während der Minuten des Mikrophonausfalls auf der Tribüne war die Masse der Demonstrationsteilnehmer wie gelähmt. Weder gab es Sprechchöre, die Rederecht für von Weizsäcker forderten, noch solche, die die Anmaßung der Autonomen kurz und bündig zurückgewiesen hätten. Und das, obwohl später, auf dem Heimweg, wiederum speziell von den „Ossis“ oft zu hören war, man sei 1989 nicht gegen die Unterdrückung von Meinungsfreiheit aufgestanden, um drei Jahre später genau dies zu erleben.
Woher diese Passivität, woher dieser Mangel an Spontaneität? Konfrontation mit einer völlig unvorhergesehenen, noch nie erlebten Situation? Wohl kaum. Jedes Popkonzert, jedes Fußballspiel kann als Beweis dafür herangezogen werden, daß auf Massenveranstaltungen beides gedeiht, Dumpfheit und spontaner Witz, der im Nu „von den Massen“ Besitz ergreift. Aber es gibt einen offensichtlichen Unterschied zwischen der Teilnahme an einem Match und einer Demonstration: bei ersterem ist die Rollenverteilung festgelegt. Wer hingeht, ist nicht Akteur, sondern Zuschauer.
Wie sollen „die Massen“ angesichts eines Schauspiels agieren, in dem sie zwar zum Mitspielen aufgefordert werden, aber bitte nur symbolisch, nur als zusammengedrängte, beifallspendende Leiber? Während der „samtenen Revolution“ in Prag gab es Kundgebungen von mehreren Hunderttausend Menschen, wo nicht nur mit Hilfe des Schlüsselbundes den Realsozialisten das Totenglöckchen geläutet wurde, sondern wo aus dem Überschwang eines großen Abends geborene Späße, Slogans und Parolen, von den Demonstranten aufgegriffen, zu deren Gemeingut wurden. Damals war allerdings klar, um was es ging. Heute, drei Jahre nach den demokratischen Revolutionen in Osteuropa, scheint der Freiheitsimpuls erstickt, in Prag wie in Berlin. Aber es scheint nur so. Lassen wir uns nicht die Interpretation aufzwingen, materielle Not und Existenzunsicherheit hätten im Osten ein Angstsyndrom produziert, das jetzt auch auf den Westen übergreife und selbst überzeugte Demokraten an spontanen Reaktionen hindere. 300.000 Demonstranten, davon ein rundes Drittel aus dem Osten, werden über den Ablauf der Kundgebung verärgert und enttäuscht sein, auch über sich selbst. Aber ich habe niemanden mit den Tränen kämpfen sehen, auch auf dem Rückweg zum Prenzlauer Berg nicht. Das scheint eher ein Problem Wolfgang Thierses zu sein. In einem wichtigen Augenblick haben die Demonstranten nicht reagiert. Aber sie unterließen es, weil sie nicht sicher waren, ob der Bundespräsident sich wirklich zum Sprecher ihrer Forderungen und Wünsche machen würde, ihrer demokratischen Forderungen, nicht ihrer materiellen. Ob er nur in allgemeiner Weise den faschistischen Terror verurteilen, ob er zur Frage der Behandlung der politischen Flüchtlinge und Asylsuchenden schweigen würde. An diesem Zögern, dieser Unentschlossenheit der Menge, dem Präsidenten zum Wort zu verhelfen, ist dieser auf Grund seines Verhaltens seit Rostock selbst nicht unschuldig.
Jetzt angesichts dieser großartigen Demonstration von Weimarer Zuständen zu zetern, die Gefahr durch den linken und rechten Extremismus zu parallelisieren, heißt, die politischen Verhältnisse auf den Kopf zu stellen. Jeder Vergleich zur Spätphase der Weimarer Republik rechtfertigt sich nur in dem Maße, wie Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik unfähig sind, dem faschistischen Terror zu begegnen. Der 8. November 1992 bezeichnet den Beginn dieser gesellschaftlichen Gegenwehr. Nur das zählt letztlich und nicht die Hysterie der offiziellen Politik. Christian Semler
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