: Nur ein Ablenkungsmanöver
Mindestlöhne passen nicht ins deutsche Tarifsystem. Das weiß auch Franz Müntefering. Aber der SPD-Parteivorsitzende will nicht mehr über Hartz reden
VON HANNES KOCH
Das neueste Zauberwort der Sozialdebatte heißt „Mindestlohn“. Um den Demonstranten gegen Hartz IV den Wind aus den Segeln zu nehmen, hat SPD-Chef Franz Müntefering vor zwei Tagen überraschend vorgeschlagen, eine staatlich festgesetzte Untergrenze für das Einkommen aller Beschäftigten zu definieren. Seit dem geht es rund. Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD), die Spitzen des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) und der IG Metall sind dagegen, SPD-Ministerpräsident Kurt Beck (Rheinland-Pfalz) und Grünen-Vorsitzende Reinhard Bütikofer dafür.
Eine bunte Diskussion mit auf den ersten Blick erstaunlicher Rollenverteilung. Manche Positionsbeschreibung sollte eigentlich genau entgegengesetzt ausfallen. Weil der Mindestlohn doch ein grundsoziales Anliegen darstellt, müssten die Wirtschaftsliberalen der Grünen dagegen sein. Und der DGB im Gegenteil dafür. Eine Position, die die Gewerkschaft Ver.di im Übrigen auch einnimmt.
Warum wird jetzt überhaupt über den Mindestlohn geredet?
Weil Müntefering den Begriff wegen seines hoffnungsfrohen Klangs geschickt platziert hat. Im Gegensatz zu dem, was die Bundesregierung tatsächlich tut, suggeriert „Mindestlohn“, dass Schluss sein könnte mit dem Druck auf die Einkommen. Unter dem wackeligen Gebäude des Sozialstaats wird als Fundament eine Betonplatte gegossen. Niemand müsste befürchten, schlechter bezahlt zu werden: Eine Art Existenzminimum für Beschäftigte.
Könnte ein staatlicher Mindestlohn tatsächlich eine solche Art von Sicherheit bieten?
Andere Staaten haben schon vor Jahren Mindestlöhne beschlossen (siehe Grafik). Zumindest in Frankreich und den USA hat das offenbar nicht dazu geführt, wie von Mindestlohn-Kritikern oft behauptet, dass Billigjobs massenweise wegfallen, weil das Limit zu hoch ist. Für die Untergrenze auch in Deutschland spricht außerdem, dass es immer mehr tariffreie Zonen gibt. Für Callcenter etwa existieren so gut wie keine Tarifverträge, die den Beschäftigten irgendeine Form von Sicherheit gewährleisteten. Bezahlt wird, was der Callcenter-Geschäftsführer diktiert und die Bewerber akzeptieren. Das wird auch erst einmal so bleiben, weil es weder einen Arbeitsgeberverband gibt, noch die Gewerkschaften über ausreichend Mitglieder verfügen. Und selbst da, wo Tarifverträge ausgehandelt wurden, ist die Lage oft rau: Über den Daumen kommen noch rund 60 Prozent aller sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten in den Genuss eines Vertrags.
Wer also soll in diesem Wilden Westen Recht setzen, wenn nicht der Staat?, fragt sich etwa die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di.
Und was spricht gegen einen Mindestlohn?
Die Wirklichkeit, die so schrecklich kompliziert ist. Reinhard Dombre vom DGB-Bundesvorstand nennt eine erstaunliche Zahl: In Deutschland existieren 59.636 gültige Tarifverträge. Sie sind differenziert nach Bundesländern, Branchen, Löhnen, Gehältern, Lohngruppen und allen möglichen anderen Kriterien. Der deutsche Sozialstaat ruht nicht auf einem ebenen Fundament, sondern wie Venedig auf ganz vielen Holzpfählen mit unterschiedlicher Höhe. Wie soll der Staat in Person von Beamten und Politikern nun zwei, drei oder vier Euro-Beträge definieren, die dann für 20 Millionen Beschäftigte gelten? Das geht nicht. Würde es doch gemacht, setzten immer zwei verhängnisvolle Reaktionen ein. Liegt der weise ausgedachte Mindestlohn niedriger als die tatsächliche Bezahlung in der jeweiligen Branche, kommt es zum von den Gewerkschaften gefürchteten „Staubsauger-Effekt“. Die Löhne sinken in Richtung Mindestlohn. Wird das Gehalt hingegen zu hoch festgesetzt, finden sich die am schlechtesten bezahlenden Firmen in der Illegalität und müssten ihre Billigjobs abschaffen. Die Folge: mehr Arbeitslose.
Die Kontra-Argumente stellt etwa der DGB in den Vordergrund. Kein Wunder: Legt die Politik die minimale Lohnhöhe fest, schränkt das die Verhandlungsautonomie der Gewerkschaften ein, schmälert also ihren Einfluss. Um diesen zu erhalten, nimmt der DBG auch in Kauf, dass in den immer größeren tariffreien Bereichen lohnpolitische Anarchie herrscht. Aus Sicht der Gewerkschaft spricht außerdem gegen den Mindestlohn, dass im Sinne des Gruppeninteresses der Arbeitsplatzbesitzer die Löhne möglichst hoch sein sollen.
Das Schicksal der Arbeitslosen interessiert dabei erst in zweiter Linie.
Gibt es einen Ausweg aus dem Dilemma?
Ja, siehe deutsche Bauwirtschaft. Dort gilt seit 1997 ein Mindestlohn, der gegenwärtig bei 8,95 Euro pro Stunde liegt. IG BAU und Arbeitgeber haben ihn ausgehandelt, um zu verhindern, dass ausländische Billiganbieter den einheimischen Markt kaputt machen – eine Art von Protektionismus. Weil die Tarifparteien sich im Gegensatz zur Politik in ihrer Branche gut auskennen, stimmt die Höhe des Mindestlohns. Gleichzeitig aber – und das ist der besondere Kniff – hat ihn das Bundeswirtschaftsministerium für „allgemeinverbindlich“ erklärt. Die Basisbezahlung hat damit Gesetzeskraft und gilt für alle Unternehmen am Bau – auch die, die nicht Mitglied im Arbeitgeberverband sind.
Denkt SPD-Chef Müntefering an solche Feinheiten?
Nein, das Warten auf eine Einigung der Tarifparteien in bestimmten Branchen würde auch viel zu lange dauern, um in Bezug auf Hartz IV kurzfristig irgendetwas zu ändern. Trotzdem hat die Debatte für Müntefering einen Vorteil: Sie lenkt vom eigentlichen Punkt ab. Der heißt: Senkung der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau, Einkommenverlust für 1,5 Millionen Leute. Diese Klage der Anti-Hartz-Demonstranten hört die SPD nicht gern.