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Archiv-Artikel

Nur Text, sonst nichts

Der Mensch ist dem Menschen immer ein Fremdkörper, und ein Fremdkörper ist er auch der Welt: „Raoul Tranchirers Bemerkungen über die Stille“, der sechste Teil von Ror Wolfs Anti-Enzyklopädie

VON MAJA RETTIG

Schon mindestens dreimal hat Ror Wolf oder einer seiner Pappkameraden die „Enzyklopädie für unerschrockene Leser“ für abgeschlossen erklärt. 1983 erschien der erste Band, „Raoul Tranchirers vielseitiger großer Ratschläger für alle Fälle der Welt“, nun kommt mit „Raoul Tranchirers Bemerkungen über die Stille“ der sechste – wieder in Lexikonmanier nach alphabetisch sortierten „Artikeln“ gegliedert und um surrealistische Collagen bereichert, die Wolf im Stile Max Ernsts gefertigt hat.

Ein Mann zum Beispiel fährt Fahrrad in den Lüften. Wogendes Wasser, schnappende Fische in gutbürgerlicher Stube, darin ein sinnierendes Fräulein. Ein lässiger Flaneur am Meeresgrund, zwischen Meergetier. Die Bilder sind nicht auf die Texte bezogen – sie erinnern nur ironisch an dieses doppelte enzyklopädische Prinzip der Welterklärung. Die Collagen illustrieren keinen Inhalt, dafür aber die Machart der einzigartigen Texte Ror Wolfs.

Beiden gemeinsam ist die Pose des Zeigens, des umfassenden wissenschaftlichen Erklärens – doch das Ziel ist gerade, den aufgeräumten Kopf des Lesers gründlich zu verdrehen. Deutende Zeigefinger im Bild –ins Leere, Unbedeutende oder Unsichtbare – entsprechen dem großsprecherischen Wissenschaftston, den Raoul Tranchirer anschlägt, um dann Abwegiges, Nichtiges oder gar nichts zu berichten. Stets geht es auch darum, kräftig an die Konkurrenz auszuteilen und die Mit-„Wirklichkeitswissenschaftler“ namens Collunder, Wobser, Ramm oder Klomm zu übertrumpfen: „Auch Klomm sah einen Vogel fliegen, konnte aber, wie wir es von ihm gewohnt sind, keine näheren Angaben machen.“ Die Grenze zwischen Wissenschaftler und dessen Gegenstand ist übrigens durchlässig; unversehens kann der Forscher selbst zum rätselhaften Objekt werden.

Der Mensch im Bild ist häufig nach Körperteilen nummeriert und auch inwendig aufgeschlüsselt mit Muskeln und Knochen; der Text liefert minutiöse Beschreibungen der Gliedmaßen höchstens halb bekannter Wesen. Nur läuft das quer zum Rest: Angezogene stehen neben Nackten, Gleichgültige neben Erregten. Kommunizieren tun sie nie, die Menschen bei Ror Wolf, nie erfolgreich – der Mensch ist dem Menschen ein Fremdkörper, und ein Fremdkörper ist er der Welt. Das Vergnügen des unerschrockenen Lesers und Betrachters ist die komische Absurdität in diesen mehrfachen Brüchen, im Nebeneinander unvereinbarer Realitäten oder surrealistischer Irrealitäten. Manchmal erschrecken wir aber doch, kippt das befreite Lachen über derart umgestürzte Verhältnisse in Verunsicherung, ja Entsetzen: Dann wird das Kuriose zum Monströsen. Menschen haben Maschinenteile im Gesicht statt Nase, Mund, Augen. Gehirne oder Gedärme dienen als Möbelschnörkel.

Besonders kalt erwischt es den Leser, wenn das Bedrohliche durch eine Überschreitung der Erzählebenen eingeschleust wird: „Also schreibe ich: Die Sonne ist ein tiefes Loch am Himmel, eine Öffnung am 4. August, aus der plötzlich dickes dunkles Blut herab fließt, hinein in diesen Artikel.“ Derart ist das Erzählen mit seinem Gegenstand vermengt, dass momentweise auch für den Leser der Sicherheitsabstand dahin ist – lesen wir den Text oder liest der Text uns, und wie mörderisch ist dieses Unterfangen?

Es existiert nichts außerhalb des Texts, das betonen diese Texte immer wieder. Wo das Lexikon auf Dinge referiert und das Wörterbuch auf deren Bezeichnungen, wird in Ror Wolfs Anti-Enzyklopädie die Welt radikal erst durch Sprache erzeugt und entzogen. So schreibt Tranchirer zum Thema Schiffbruch: „Dazu sind gewisse Voraussetzungen nötig. Das Meer: da ist das Meer. Das Schiff: da ist das Schiff.“ Erst indem er sie benennt, hat er Meer und Schiff geschaffen. Und umgekehrt: Was einmal benannt ist, muss nicht weiter ausgeführt werden: „Zum Schluß noch einige abschließende Worte über die Hauptsache.“ Damit bricht der Text ab, das waren dann schon jene abschließenden Worte.

Insgesamt löst sich Ror Wolf diesmal stärker von der parodierten Gattung. Während er anfangs noch viel aus Nachschlagewerken und bürgerlichen Ratgebern des 19. Jahrhunderts übernommen hat, herrscht hier ein astreiner Ror-Wolf-Sound. Die Stichwörter sind allgemeiner, also beliebiger, reichen von „Ausflugsdampfer“ bis „Vorwärtsschieben“, einige Buchstaben des Alphabets fehlen, einige „siehe“-Verweise gehen ins Leere – darunter bezeichnenderweise der zum Artikel „Wirklichkeit“. Auch ist der Text nicht mehr lexikonartig in Spalten gesetzt.

Raoul Tranchirer hat eine Sehnsucht nach dem Verstummen – siehe: Titel des Werks, siehe darin „Stille“. Auch seine ständigen Erzählverweigerungen und -abbrüche, seine vielfachen Tricks des Nichterzählens könnten dafür Ausdruck sein. Der Konsument aber ist aufs Neue beglückt und ruft nach einer Zugabe, schenkt Collunder keinen Glauben, der im Schlusswort das unwiderrufliche Ende von Raoul Tranchirers Welterklärungen verkündet. Doch „Enzyklopädien sind“, schreibt Collunder, „ihrem Wesen nach unabschließbar.“

Ror Wolf: „Raoul Tranchirers Bemerkungen über die Stille“. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2005, 160 Seiten, 19,90 €