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Archiv-Artikel

„Nun haben wir unseren Mandela“

Der chinesische Journalist und Blogger Michael Anti geht davon aus, dass der inhaftierte Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo zu einem Symbol der Freiheit werden wird. Dies werde früher oder später auch die chinesische Regierung erkennen müssen

Michael Anti

■ geboren 1975 in Nanjing, Journalist. Er arbeitete u. a. für die New York Times und die Washington Post in Peking. Derzeit ist er Gastprofessor an der Universität Tokio.

taz: Herr Anti, Sie schreiben hauptsächlich über die Pressefreiheit in China. Welche Folgen hat der Friedensnobelpreis für Liu Xiaobo für Menschenrechtsaktivisten in China?

Michael Anti: Damit haben wir unseren eigenen Mandela bekommen. Liu Xiaobo wird mit dem Preis zu einem Symbol für Demokratie und Freiheit in China. Aber nicht nur auf der politischen Ebene, sondern auch moralisch. Die Preisverleihung gibt den Menschen, die auf demokratische Reformen in China hoffen, Vertrauen und Hoffnung.

Sie haben also keine Angst, dass die Repressionen gegen Menschenrechtsaktivisten jetzt noch zunehmen?

Kurzfristig kann das der Fall sein, aber auf lange Sicht wird das Symbol des Friedensnobelpreisträgers stärker wirken. Die Regierung kann das nicht ewig ignorieren.

Wie sind die Reaktionen anderer Menschenrechtsaktivisten auf die Preisverleihung?

Ich würde mal sagen, dass 99 Prozent der Zivibevölkerung die Auszeichnung begrüßen und natürlich gerade diejenigen, die auf demokratische Reformen hoffen.

Aber Liu Xiaobo ist in der einfachen chinesischen Bevölkerung doch gar nicht so bekannt, oder?

Nein, aber die Menschen versuchen herauszufinden, wer er ist, beziehungsweise wer den Friedensnobelpreis bekommen hat. Der Preis ist bekannt und genießt hohes Ansehen, die Menschen wollen wissen, wer ihn gekriegt hat. Allein diese Suche nach Informationen hat Auswirkungen. Immer mehr merken, dass sie nicht in einem normalen Land leben. Sie erkennen, dass die Entwicklung, die China durchmacht, paradox ist: Die Wirtschaft boomt, aber Demokratie stellt sich nicht ein. Das macht die Leute zunehmend unzufrieden.

Glauben Sie, dass die Regierung Liu Xiaobo bald freilassen wird?

Die Regierung wird sich vermutlich irgendetwas einfallen lassen müssen. Einen Friedensnobelpreisträger in Haft zu halten, ist nicht einfach, insbesondere nicht für ein Lokalgefängnis wie das, wo er gerade ist. Allein die Kosten dürften zu hoch sein. Ich glaube, sie werden ihn früher oder später zumindest nach Peking überführen müssen, und vielleicht wird es ein Arrangement geben, das ihn mit seiner Frau zusammenleben lässt. Darüber wird es Auseinandersetzungen geben und das allein wird politische Reformen wahrscheinlicher machen. Die Regierung muss Signale geben, sie können ein solches moralisches Symbol nicht ignorieren.

INTERVIEW: FRAUKE BÖGER