: Not am Notarzt
In Schleswig-Holstein sollen Kranke außerhalb der Sprechstundenzeiten in die Kliniken zur notärztlichen Versorgung fahren. Eingesessene Landärzte halten dies für patientenfeindlich
von Esther Geißlinger
Die alte Frau mit den Brustschmerzen am Sonntag, die Eltern, deren Kind nachts stark hustet, der Mann, der sich geschnitten hat – bisher wenden sie sich an den Arzt ihres Dorfes oder des Umlandes, der außerhalb der Sprechzeiten Dienst tut. Demnächst muss ein Teil dieser Patienten wahrscheinlich ins Auto steigen und ins Krankenhaus fahren. Dies sehen Pläne der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) in Schleswig-Holstein vor. Die KV will voraussichtlich bis Ende des Jahres das bisherige System der Notdienste niedergelassener Ärzte umstellen auf so genannte Anlaufpraxen.
Ärztliche Versorgung mit dem Zirkel: Um alle Krankenhäuser des Landes hat die KV Kreise mit einem 20-Kilometer-Radius gezogen. Die Ärzte, die dort ihre Praxen haben, sollen in einen Verbund aufgenommen werden und in Zukunft nach einem festen Plan im Krankenhaus auf Patienten warten. Ein weiterer Kollege fährt zu den schwereren Fällen – zu der alten Frau etwa, die kein Auto hat, dem Verletzten, der nicht fahren kann. Nach einer telefonischen Erstberatung wird entschieden, ob der Wagen geschickt wird oder der Patient selbst kommen muss. In ganz schweren Fällen fährt nicht der niedergelassene Arzt, sondern der Rettungswagen des Krankenhauses mit dem Notfallarzt los – dieses System wird von den KV-Plänen nicht berührt. „Die Versorgung bleibt gewährleistet – aber es wird etwas unbequemer für die Patienten werden“, sagt KV-Sprecher Robert Quentin.
Das Argument der KV, dennoch diesen Weg zu gehen: „Wir finden keine Ärzte mehr, die Praxen auf dem Land übernehmen wollen.“ Junge Mediziner seien oft abgeschreckt, wenn sie hören, dass sie mehrmals in der Woche Nacht- und häufig Sonntagsdienste übernehmen müssen. Wird das System geändert, so die Hoffnung der KV, teilen sich deutlich mehr Ärzte einen Bereich. Die Dienste ließen sich besser planen, und statt Geld für die einzelne Behandlung soll es eine Pauschale geben: „Wir wollen nicht mehr Geld ausgeben, es aber anders verteilen.“ Die Bevölkerung müsse in den sauren Apfel beißen, meint Quentin: „Denn die Alternative ist noch saurer – nämlich, dass es auf absehbare Zeit gar keinen Arzt im Dorf mehr gibt.“
Nicht alle Mediziner sind glücklich über diese Pläne: „Bei uns läuft es gut, warum sollen wir das ändern?“, fragt Dr. Frank Riebandt, Landarzt im Dörfchen Wohlde. Fünf Kollegen gibt es in der Umgebung, sie haben sich vor 15 Jahren zu einem Verbund zusammengetan und vertreten sich gegenseitig. Das hat Vorteile, meint der Allgemeinmediziner: „Wir kennen unsere Patienten. Wie soll eine Telefonzentrale oder ein fremder Arzt entscheiden, ob da wirklich ein Notfall vorliegt oder ob der Patient am nächsten Tag in die Praxis kommen kann?“
Hinzu kommt ein besonderes Problem: Wohlde liegt im Eider-Treene-Sorge-Gebiet – weitab von allen Krankenhäusern, außerhalb aller 20-Kilometer-Radien. Weite Wege also – und Riebandt fürchtet, dass viele Patienten diese scheuen werden: „Einige werden sicher nachts lieber erstmal an meiner Tür klingeln, statt sich an den zentralen Notruf zu wenden.“ Die Klingel überhören könne er schließlich nicht, meint der 59-Jährige, der „immer noch gern Landarzt ist, mit allem, was dazu gehört“.
Entsetzt von den Plänen ist auch der Amtsvorsteher der Region, Hans-Joachim Bellendorf: „Wir sind doch auf die Grundversorgung angewiesen – was sollen denn die älteren Leute machen, die nachts nicht fahren können?“ KV-Sprecher Quentin betont, dass „kein System zerschlagen wird, das gut läuft“. Riebandt und seine Kollegen könnten also ihren internen Verbund behalten und den Menschen ihrer Region weite Wege ersparen. Es gibt aber „finanzielle Anreize“, sich dem neuen Modell anzuschließen – also werden alle indirekt bestraft, die außerhalb bleiben. „Damit wir nicht ausgebootet werden, kann es sein, dass wir uns nach Schleswig orientieren“, sagt Riebandt – von den vier möglichen Kliniken wäre das die nächste. Zufrieden ist er damit nicht: „Ich bin hierher gekommen, um mit den Menschen zu leben. Wir müssen die wohnortnahe Versorgung erhalten.“