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Norwegische SporttragödieAuseinanderfallen einer bewunderten Familie

Der norwegische Leichtathletik-Star Jakob Ingebrigtsen und seine Geschwister werfen ihrem Vater und Trainer Gewalt vor. Nun entscheidet ein Gericht.

Aus gemein­samen Zeiten: Jakob Ingebrigtsen wird von Vater Gjert eng betreut Foto: imago

Die bekannteste, erfolgreichste, beliebteste Sportfamilie des Landes? In Norwegen weiß man sofort, damit sind die Ingebrigtsens gemeint. Ein Vater ohne profes­sio­nel­le Trainerausbildung, der drei seiner Söhne zu internationale Spitzenläufern macht – das fasziniert das Land seit Jahren.

Dann nahm die Geschichte eine dramatische Wende. Am Montag fällt nach einem Strafprozess, der die norwegische Öffentlichkeit extrem bewegt hat, das Urteil gegen den 59-jährigen Gjert Ingebrigtsen. Der Vorwurf: Er habe zwei seiner sieben Kinder über Jahre physisch und psychisch misshandelt. Muss er ins Gefängnis?

Die Staatsanwaltschaft forderte im Mai zweieinhalb Jahre Haft. Die Verteidigung hingegen verlangte den Freispruch des Trainer-Vaters – die familiären Konflikte hätten nach ihrer Auffassung nie ein Fall fürs Gericht werden dürfen. Das hatte die Polizei anders gesehen – sie begann zu ermitteln, nachdem die drei „Laufbrüder“ Jakob, Filip und Henrik Ingebrigtsen im Herbst 2023 das bis dahin Private öffentlich gemacht hatten.

„Wir sind mit einem Vater aufgewachsen, der sehr aggressiv und kontrollierend war und der körperliche Gewalt und Drohungen als Teil seiner Erziehung nutzte“, schrieben sie in der Zeitung Verdens Gang. Der Druck auf sie sei zeitweise unmenschlich gewesen, die Freude am Sport verschwunden. Gefühle wie Unwohlsein und Angst säßen seit der Kindheit in ihnen.

Druck durch die Medien

Nun hatte Norwegen eine Erklärung. Bis dahin war viel spekuliert worden zur Frage, die viele seit Anfang 2022 umtrieb: Warum hatten die Brüder die Zusammenarbeit mit dem Vater beendet? Warum gab es das bewunderte „Team Ingebrigtsen“ nicht mehr? Die Medien versuchten, das herauszufinden. Die Brüder gaben das als Grund für ihre Entscheidung an, ihre Geschichte selbst zu erzählen. Dass die Aufregung um und das Interesse an der Familie nachlassen würde und die Brüder zur Ruhe kommen würden, wenn sie derartige Vorwürfe öffentlich machen, war allerdings kaum zu erwarten gewesen.

Die ungewöhnliche Familie hatte ihren Alltag rund um den Laufsport für ein Reality-Format filmen lassen – von 2016 bis 2021 gab es immer neue Staffeln von „Team Ingebrigtsen“. So hatte viele den Eindruck, nah dran gewesen zu sein beim Weg zu den Erfolgen wie dem Olympiagold, das Jakob beim 1.500-Meter-Lauf in Tokio holte. Der Jüngste der Laufbrüder wurde quasi vor der Kamera zu einem der schnellsten Mittel- und Langstreckenläufer der Welt.

Umso schockierter waren die, die nichts geahnt hatten, vom Auseinanderfallen der Familie. Dass es schwierig sein konnte mit dem eigenen Vater als Trainer, und dass er ein strenger Trainer war: Das galt so weit als bekannt. Im Nachhinein wirken entsprechende Äußerungen aus alten Podcasts oder Talkshows noch einmal anders. Sportlich änderte sich wenig: Mehrere Weltmeistertitel und Olympiagold über 5.000 Meter in Paris holte Jakob Ingebrigtsen seit dem Bruch mit dem Vater.

Dass ihre Reality-Show nicht tatsächlich die Realität abgebildet hatte, wurde auch in dem Prozess, über den norwegische Medien in allen Einzelheiten berichteten, zum Thema. Der heute 24-jährige Jakob erklärte etwa, er habe sich sicherer gefühlt, Dinge zu kritisieren, wenn das Kamerateam dabei war. Um ihn und seine 19-jährige Schwester geht es in den verhandelten Vorwürfen.

Entlastende TV-Doku?

Die Verteidiger des Vaters wollten die Familien-Dokuserie als Beweis anführen, alles könne nicht so schlimm gewesen sein. Und eine strenge Trainingsroutine dürfe nicht mit häuslicher Gewalt verwechselt werden. Staatsanwältin Angjerd Kvernenes hatte zum Prozessauftakt am Amtsgericht in Sandnes allerdings schnell klargemacht: Es gehe um die Frage, ob ein Vater einen Sohn und eine Tochter über zehn beziehungsweise vier Jahre misshandelt hat. Nicht darum, wie weit ein Trainer gehen kann, um Druck auf einen Sportler auszuüben.

Gjert Ingebrigtsen beteuert seit Bekanntwerden der Vorwürfe seine Unschuld. Er hätte Schwächen als Vater und das Trainersein habe irgendwann überhand genommen, räumte er ein. Aber er habe nie Gewalt angewendet. Er sagte auch, es sei nicht seine Absicht gewesen, mit seiner Art zu kommunizieren, Angst auszulösen. Dass er das allerdings getan habe, mit unvorhersehbaren Wutausbrüchen, abwertenden Aussagen und eben mit körperlicher Gewalt, davon erzählten vor Gericht auch die drei älteren Brüder Jakobs. Möglicherweise strafbare Taten des Vaters gegen den ältesten Sohn waren verjährt und deshalb nicht vor Gericht.

Der Bruch geht nun durch die Familie. Das macht spätestens die Aussage der Mutter deutlich. Sie verlangte dafür den Ausschluss der Öffentlichkeit. Anwälte beider Seiten berichteten danach, sie haben sich auf die Seite ihres Mannes gestellt – es habe in ihrer Familie Regeln gegeben, aber keine Gewalt. „Konsequenzen, aber keine Strafe“, so hatte es Gjert Inge­brigt­sen geschildert. Auch einer der Söhne des Paars nahm seinen Vater in Schutz.

Die Schwester hingegen, deren Fall hier verhandelt wurde, berichtete, sie habe sich zu Hause nur sicher gefühlt, wenn der Vater nicht da war. Ein Streit zwischen ihr und ihm endete einmal damit, dass er ihr mit einem Handtuch ins Gesicht schlug. Er behauptete vor Gericht, höchstens ihre Hand getroffen zu haben. Dieser Vorfall war laut den Brüdern Anfang 2022 der Anlass, sich vom Vater als Trainer zu trennen.

Zum Ende der Gerichtsverhandlung hatte Jakob Inge­brigt­sen betont, ihm sei es darum gegangen, zu erzählen, was sie erlebt haben. „Meine Geschwister und ich werden nun im Leben weitergehen, unabhängig vom Ausgang des Prozesses. Viele Kinder können das nicht“, schrieb er erneut in Verdens Gang. Wenige Tage vor der Urteilsverkündung gingen er und seine Brüder Filip und Henrik demonstrativ mit einem ganz anderen Thema an die Öffentlichkeit: Sie gaben die Gründung einer Art globalen Laufgruppe bekannt, in der sie ihr Wissen teilen wollen. Wie auch immer das Urteil für ihren Vater ausfällt – die Brüder laufen ohne ihn weiter.

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1 Kommentar

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  • Konsequenzen aber keine Strafen.



    Hört sich wie der Alltag von vielen pädagogischen Einrichtungen in Deutschland an. Na klar, Strafen sind ja verboten, Konsequenzen ja nicht.