piwik no script img

Archiv-Artikel

Normalzeit HELMUT HÖGE über Recht als Lotto

„Entweder hat man Macht oder Recht. Beides kann man nicht haben.“ (Martin van Crefeld, Jerusalemer Konfliktforscher)

Am 17. März endete die Berufungsverhandlung gegen Tamara Ernst, der die Staatsanwaltschaft vorgeworfen hatte, in betrügerischer Absicht ihren Lottoschein gefälscht zu haben, um schnell reich zu werden. Die ehemalige Philosophiedozentin der Moskauer Militärflugzeugakademie kam mit einer Geldstrafe davon, wird aber in Revision gehen.

Sie hatte sich ab 2002 ein Jahr lang alle Gewinnzahlen aufgeschrieben, und dann daraus mit Hilfe einiger Formeln 24 Glückszahlen ermittelt. 2003 gab sie ihren Lottoschein bei einer Annahmestelle in Kreuzberg ab, aber der Terminal funktionierte nicht richtig: Er scannte ihren Schein erst beim vierten Versuch ein. Und wie fast jeder Spieler verglich sie anschließend nicht die Zahlen auf der Quittung mit ihren auf dem Schein. Das tat sie erst, als sie im Fernsehen sah, dass sie sechs Richtige hatte: Auf der allein gültigen Spielquittung standen ganz andere Zahlen, obwohl die Losnummer mit der auf dem Lottoschein identisch war.

Damit nahm das Unglück seinen Lauf! Sie ging zur Annahmestelle. Dort sagte man ihr, dass die Lotteriegesellschaft den Terminal abgeholt habe. Sie rief bei der Lotteriegesellschaft an. Dort meinte man: „Bei zwei oder drei Zahlen kann das passieren, aber nicht bei sechs.“ Sie rief bei der BZ an: Die Redakteurin schickte einen Fotografen und der fuhr mit ihr zur Lottogesellschaft. Dort fragte er den technischen Leiter Trabalski: „Wie oft haben Sie derartige technische Fehler?“ Der antwortete ihm: „Wir kennen solche Leute, mit denen werden wir fertig!“

Trabalski erklärte Frau Ernst: Wir haben den Terminal abgeholt, weil der Annahmestellenbesitzer ein eigenes Programm in den Computer installiert hat, deswegen sei ihm fristlos gekündigt und das Terminal zur Werkstatt geschickt worden. Später gab es eine andere Begründung. Noch bevor Tamara Ernst eine Zivilklage einreichen konnte, verklagte ein Rechtsanwalt der Lottogesellschaft sie schon wegen versuchten Betrugs.

Nun gibt es überall in Deutschland solche Fälle, wo Lottoscheine falsch eingescannt wurden – und manchmal klagen die dadurch um ihre Gewinne betrogenen Spieler auch (siehe taz vom 17. 8. 05). Aber all das berücksichtigten die Moabiter Richter in der ersten und zweiten Instanz nicht: Sie folgten der fadenscheinigen Begründung der Lottogesellschaft, den Hypothesen eines verstockten Kriminalhauptkommissars und der Springerstiefelpresse. Diese waren davon überzeugt, dass es sich bei der russischen Witwe um eine abgefeimte Verbrecherin handelt, die mittels Copyshop, Kleber und Stift die Lottogesellschaft um einen „hohen Gewinn“, so der Richter des Landgerichts, betrügen wollte. Er konnte deswegen, gestützt auf die Empathiefähigkeit der jungen gelangweilten Staatsanwältin in Bezug auf ausländische Kriminelle, ein auf dem gesunden deutschen Menschenverstand basierendes reines Psychourteil fällen.

Zur Angeklagten gewandt, endete es mit dem höhnischen Satz: „Sie denken wahrscheinlich: Ich bleibe dabei und ziehe das durch, irgendeine Kammer wird mir vielleicht glauben … Aber wir tun es nicht!“ Zwar zitierte der Psycho-Richter die BZ-Journalistin, der „die Sache“ schon 2003 „nicht ganz koscher“ gewesen war (so war dann später auch ihr Bericht), aber weder ging er auf die vielen dokumentierten Scannfehler in anderen Bundesländern ein, die im Prozess vorgelesen wurden, noch auf die „persönliche Erklärung“ des BKA-Experten, die dieser im Anschluss an den Vortrag seines Gutachtens geäußert hatte: Die Lottogesellschaft hatte ihm bei der Untersuchung des Terminals nicht gestattet, das Gerät zu öffnen, weswegen er nur dessen Funktionen kurz getestet hatte. Dem mageren Prüfungsergebnis hatte er jedoch vor Gericht hinzugefügt, dass es durchaus vorstellbar sei, dass ein oder mehrere „Staubkörner“ an der richtigen Stelle im Terminal diese Reihe falscher Zahlen produzieren könnte.

Aber von der Lottogesellschaft lebt die halbe Kulturhauptstadt, da muss man schon mal zur Not ein Russenopfer bringen. Und der Richter kann sich sogar noch großzügig wähnen, indem er das alte Weiblein nicht zu den von der Staatsanwältin geforderten 100 Tagessätzen à 40 Euro verdonnerte, sondern nur zu 90 à 44 Euro (damit ist sie nicht vorbestraft).

Wir erwarten von deutschen Gerichten schon lange keine Wahrheitsfindung mehr – aber das war ein absolut schändliches Moabiter Doppelurteil. Bleibt die winzige Hoffnung, dass das Kammergericht es „kassiert“.