Normalzeit: Berlin im Herbst
■ Von Helmut Höge
Der in diesem Jahr zu Ende kommende März-Verleger meinte neulich in seiner periodischen Schriftenreihe „Schröder erzählt“, dass die taz-Kulturseiten in den Jahren 83–84 noch richtig schön anarchistisch gewesen seien. Damals lebten aber auch noch Wolfgang Neuss und er – Schröder – sowieso.
Sogar einen eigenen Traktor besaß er damals noch. In diesen graubunten Herbsttagen erinnert zudem der in der Nähe lebende Kleinverleger Peter Engstler in seinem Verlagsprospekt an jene munteren Tage Anfang der Achtzigerjahre, die mir fast aus dem Gedächtnis gerutscht sind.
Da findet sich z. B. das letzte Buch der verstorbenen Buchhändlerin Hilka Nordhausen „Melonen für Bagdad“, ein Buch der wunderbaren SM-Filmerin Pola Reuth „Libysche Träume“, gleich mehrere Bücher vom Heidelberger Buchhändler Jörg Burkhard, sowie Gedichtsammlungen des verstorbenen Helmut Salzinger, nicht zu vergessen das inzwischen in mehrere Sprachen übersetzte V2-Buch „Der Raketenberg“ von Udo Breger.
Auch Cornelia Köster ist mit von der Partie: Sie hat zehn phantastisch-globale Gedichte des Gründers des Moskauer Zentralinstituts für Arbeit, Aleksej Gastev – er wurde 1937 erschossen – ausgegraben. Da kann einem schon ganz herbstlich zumute werden.
Es kommt aber noch dicker: In der taz stoße ich auf ein herrenloses Buch mit dem Titel „Die Freiheit riecht nach Vanille“ von Dariusz Muszer, aus dem Verlag „A1“. Den Verlag kenne ich doch! – vom deutsch-polnischen Poetendampfer, wo der junge polnische Schriftsteller Christoph Maria Zoluski mir von seiner gleichnamigen Zeitschrift erzählte.
Er lebt in Süddeutschland. Ich rufe ihn an: Nein, seine Zeitschrift hieß „B1“, es gibt sie nicht mehr, er arbeite aber gerade an einer Anthologie junger polnischer Literatur und außerdem sei sein polnisches Buch „Das Bodensee-Triptychon“ auf Deutsch übersetzt worden, jedoch leider noch ohne Verlag. Eine in Deutschland lebende jüdisch-russische Kritikerin, Olga Mannheimer, hätte dazu gemeint, es sei so offenherzig, dass es den Rechten Material für ihre Osteuropäerfeindlichkeit liefern könnte.
In einem Berliner Kleinverlag erschien gerade die „Beichte eines verrückten Emigranten“ von Timur Litanischwili. Es erinnerte mich stark an Limonows „Fuck off America“, das Anfang der Achtzigerjahre auf Deutsch erschien. Der Autor war nach Amerika emigriert, wo ihn seine Freundin wegen eines reichen Amerikaners sitzen ließ. Später gründete Limonow in Moskau die Nationalbolschewistische Partei.
Auch der in Hannover lebende Dariusz Muszer gehört noch in diese für Deutschland wieder neue Tradition der jungen osteuropäischen Emigrantenliteratur, sein „Roman“ ist jedoch sprachlich ziemlich ausgefeilt.
Es war gerade diese Gruppe, die ich dem Berliner Zeit-Redakteur von „Leben“ als neue Autoren empfahl. Er ging jedoch gar nicht darauf ein, sondern wollte nur von mir wissen, was ich selbst zum neuen „Leben“ beisteuern könne. Da fiel mir nichts ein. Und ihm eigentlich auch nicht, außer einem halbherzigen Versuch, mich zu einer Recherche über die neue Bestuhlung im Olympia-Stadion zu bewegen.
Später fand ich auf seinen Seiten ausgerechnet Kolumnen von Lilly Bret und Victor Jerofejew, zwei Autoren, die – obwohl immerhin jüdisch-russisch – mich nun gar nicht vom Hocker reißen. Im Gegensatz zu diesen jungen Emigranten aus Osteuropa, die einem die ganze gute Laune auf einen Schlag vertreiben können.
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