■ Normalzeit: Brühwurstpastete mit Dinosaurier
Gleich der fünfte Wagen hielt an: ein seltener Saab. Ich wollte nach Lankwitz mitgenommen werden. Der Fahrer war ein grauhaariger Grieche. Er besaß eine Computerfirma in Straßburg und war für die Software im Bundesgesundheitsamt verantwortlich, erzählte er mir noch auf der Bundesallee. Sofort hatten wir ein Thema: den Aids-Skandal in seiner Bundesoberbehörde und ihre Industriehörigkeit, die sich u.a. bei den Unbedenklichkeitserklärungen für Asbestfasern und dem Holzschutzmittel PCP gezeigt hatte. Das seien doch noch vergleichsweise harmlose Fälle, fand der Grieche. Ihn bedrücke eher die Praxis der Festlegung von Obergrenzen für Chemikalien- Beimengungen in Lebensmitteln. Diese werde nämlich von den großen Lebensmittelfirmen und nicht von Gesundheitswissenschaftlern festgelegt. Sie richten sich so primär nach den optimalen Produktionserfordernissen einiger Konzerne in der Branche und nicht nach den allgemeinen Erkenntnissen über gesunde Ernährung. „Da müßte mal jemand was drüber veröffentlichen. Das wird immer grauenhafter.“
So habe er zum Beispiel gerade auf der Kölner Welternährungsmesse „Anuga“ eine Brühwurstpastete mit „eingelegtem“ Dinosaurier entdeckt. Sie habe nur 20 Prozent Fettgehalt, wäre aber mit Stabilisatoren, Emulgatoren, Geschmacksverstärkern, Antioxidationsmitteln und haltbarkeitsverlängernden Mitteln vollgestopft und sei speziell für den kindlichen Appetit kreiert worden. Als ich ihm kurz vor meinem Fahrtziel gestand, ich sei Bürobote bei der taz, meinte er zuerst: „Da bin ich ja genau an den Richtigen geraten“, dann fügte er aber nach kurzer Überlegung hinzu: „Au wei, da hätte ich mich ja fast geoutet.“
Wir waren da. Er hielt forsch neben einem Fahrradweg. Der Fußweg dahinter war eine einzige tiefe Baugrube, mit einem rot- weißen Absperrband zum Radweg hin gesichert. Ich war noch etwas verdattert über diese letzte Wendung des Gesprächs und öffnete mehr automatisch die Beifahrertür, um auszusteigen. In diesem Moment kam ein Radfahrer an. Er konnte nicht mehr bremsen oder ausweichen, streifte die Tür und kippte wie in Zeitlupentempo nach rechts mitsamt seinem Fahrrad über das Absperrband in die Baugrube. Ich blieb leicht gelähmt sitzen. Als ich endlich ausstieg, schaute der Kopf des Mannes bereits über den Radweg. Er war noch verdatterter als ich und sagte kein Wort. Ich entschuldigte mich pausenlos. Der Grieche war im Auto sitzen geblieben. Der Mann in der Baugrube suchte sein Fahrrad und sein Gepäck zusammen.
Ich suchte nach einer geeigneten Erklärung für beide: Es ginge doch gar nicht mehr ums Outen, stieß ich schließlich gepreßt hervor: Das Outing sei quasi out. Jetzt ginge es nur noch ums Dooring. Sie verstanden kein Wort. Ich erzählte ihnen, daß es in Berlin blutjunge Fahrradkuriere gebe, die bereits über 50mal eine Autotür vors Vorderrad geknallt bekommen hätten. Solch einen Unfall nenne man Dooring. Die Fahrer würden abends, in trauter Runde mit ihrem Dispatcher, ähnlich schwärmerisch über ihre halsbrecherischsten Doorings reden wie ihre Väter über die „Schlacht am Tegeler Weg“ und ihre Großväter über „Stalingrad“. Ich versuchte diesen etwas voreiligen Vergleich mit einem ansteckenden Lachen abzubremsen, es wurde mehr ein kehliges Entschleimen. Der Grieche im Saab und der Radfahrer in der Baugrube verzogen jedenfalls keine Miene. Die Situation war aber auch wirklich verkorkst. Ich half schließlich dem Mann, sein Fahrrad auf den Radweg zu hieven, und verabschiedete mich zerknirscht. Dann gingen wir in drei völlig verschiedene Richtungen auseinander. Helmut Höge
Wird fortgesetzt
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