■ Normalzeit: Leninismus und Milchmixgetränke
„Leninismus, das ist russischer revolutionärer Schwung und amerikanische Sachlichkeit“, hat Stalin einmal gesagt. Es fiel mir wieder ein, als ich im Café Sibylle in der Stalinallee saß und Angelika zuhörte, die mir darlegte, warum ihr eine engagierte Fröhlichkeit das Allerwichtigste sei. Schon ihre Mutter hatte sie, Angelika, seinerzeit „abgelacht“: das heißt, die Wehen kamen, während ihre Mutter bei einer Freundin saß und sich komische Geschichten erzählten. Bei Angelika traten die Wehen ein, während sie sich, 1974, den Film „Schwestern teilen alles“ ansah und dabei laufend lachen mußte, „auch noch immer früher als die anderen“. Vom Kino kam sie direkt in den Kreißsaal.
Hinter der Theke wuselte die Pächterin herum – mit mürrischem Gesicht. Wir waren ihre einzigen Gäste. „Wie läuft Ihr Geschäft?“ fragte ich sie. „Ganz schlecht,“ sagte sie, „die Karl- Marx-Allee geht immer mehr den Bach runter, selbst von den Nachwende-Läden haben schon welche dichtgemacht. Nischt los. Ostberlins Ku'damm sollte das hier mal werden, davon ist schon lange nicht mehr die Rede.“
Weil sie und ihr Mann schon über fünfzig waren, hatte man ihnen keinen EAP-Kredit bewilligt, so daß sie das Café, das die HO bewirtschaftet hatte, nicht von der Kommunalen Wohungsbaugesellschaft übernehmen konnten. Ein Westberliner kaufte schließlich die Einrichtung, und sie pachteten den Laden von ihm. Der Westler hatte die Räume bisher nur unwesentlich verunstaltet: mit zwei Spielautomaten und einem Billardtisch. Die 1968 angebrachte Leuchtschrift ist immer noch identisch mit dem alten Schriftzug der Mode- und Kulturfrauenzeitschrift Sibylle.
Das Café war von 1953 bis 1968 eine Milchbar gewesen – und hieß auch so. 1953 waren im Rahmen des üppig mit Dollars und US-Architekten ausgestatteten „Interbau“-Projekts Hansaviertel auch die ersten zwei Milchbars im Westen eröffnet worden: Als „Werbeveranstaltung“ der Neuköllner Meierei-Zentrale, deren Trinkmilch-Absatz stagnierte. Mit Milchmixgetränken (zu 60 Pfennig West oder 2.50 Mark Ost) im Chrom- und Glas-Ambiente und dem Slogan „Und jetzt ein Glas Milch“ sollte das Getränk „im Stil der neuen Zeit“ erneut auf Gewinnkurs gebracht werden. Bundespräsident Lübke und Gattin Wilhelmine tranken dort zusammen mit Willy Brandt einen „Mokka-Flip“. Amerikanische Sachlichkeit.
Das Pendant im Osten zum Renommier-Projekt Hansaviertel war die Stalinallee – mit ebenfalls zwei Milchbars. Die zweite war neben dem Kosmos-Kino. Im Café Sybille artikulierten angeblich 1953 die Bauarbeiter erstmalig ihre Empörung über die Normerhöhung bei einem „Cuba-Shake“: Die Milchbar war demnach die Keimzelle des 17.Juni-Aufstandes. Damals war die Säule in der Mitte noch spiegelverkleidet; an der Wand hing ein koloriertes Stalin-Photo.
Die Beschäftigten hatten die Fensterkästen voller Engagement selber bepflanzt. In dem Milchbar-Klima gedieh ihre Flora fast tropisch. „Es gab viel Anerkennung dafür von den Gästen“. 1968 wurden die gemauerten Kästen dann jedoch samt der Pflanzen herausgerissen. Russischer revolutionärer Schwung. „Gestalterische Strenge“ würden wir heute sagen. Helmut Höge
Wird fortgesetzt
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