■ Normalzeit: „Bärchen“ ist tot!
Auch das noch! Dabei war die „Bärchen“-Kolumne der Berliner Zeitung eine der wichtigsten Institutionen in der ehemaligen Hauptstadt. Und das kam so: Früher begann jede Sitzung eines Leitungsgremiums (in Partei, Gewerkschaft, FDJ, Staat, Kombinat) mit einem „Bericht zu Stimmung und Meinung“. Dann wurde das System der Beschwerden und Eingaben geöffnet, das schon bald extensivst genutzt wurde. Eigens zum Eingaben- Abfangen wurden daraufhin in einigen Städten „Staatliche Beauftragte“ eingerichtet, die aber bald auch nur noch Streuverluste für die Eingeber verringerten. Die Eingaben ersetzten in der DDR erlaubnisgenehmigungspflichtige Interviews, Meinungsforschung und Oral History und wurden dann ausgewertet und statistisch erfaßt. Fortan begannen alle Sitzungen von Leitungsgremien mit einer „Eingaben- Analyse“. Besonders vor Wahlen stieg die Zahl der Eingaben sprunghaft an. Das Bärchen war für diese Leute der beliebteste „Ansprechpartner“. Und Bärchen kümmerte sich auch wirklich um die Eingaben, jedenfalls wenn es dabei um ein Problem ging, bei dem man sich nicht gleich mit dem ganzen System anlegte. Meistens betraf es die staatlichen Zwischenstellen: den Nahverkehr oder die HO – zum Beispiel.
Nach der Wende bekam Bärchen zunächst eine Profilneurose und dann zunehmend weniger Eingaben. Aber für eine tägliche Kolumne reichte und reicht es allemal. Zu den unermüdlichen Bärchen-Beschwerden-Schreibern zählte und zählt Heike. Neulich war es wieder mal so weit – diesmal nach der Wahl (in Brandenburg): Da giftete plötzlich Ministerin Hildebrandt gegen PDS- Kutzmutz, und der abgewählte OB Gramlich verstand die Potsdamer Welt nicht mehr. Heike hatte an der dortigen Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften studiert, wo auch Gramlich Dozent für „Politische Ökonomie des Sozialismus“ gewesen war. Heike fragte Bärchen nun: Warum unterstützen die bürgerbewegten Feministinnen und die Frauenministerin „ausgerechnet“ diesen Gramlich, der mehrmals bat, in die Partei aufgenommen zu werden, der aber nicht aufgenommen wurde, weil er auf eine saublöde Art und immer wieder irgendwelche Akademie- Frauen anmachte? Das haben wir Partei-Frauen damals durchgesetzt.
Und nun bitte ich dich: Tu was dagegen, Bärchen, oder ich gehe nicht zur Stichwahl am 19.! – so Heike sinngemäß. Bärchen „antwortete“ ihr am 3.12. – unter der Überschrift: „Nichts gehört“. Es wurde darin aber Heikes These vom quasi sozialistischen Tittengrapscher gar nicht widerlegt, sondern nur eine völlig blödsinnige Geschichte von einer in der Straßenbahn vor sich hinbrabbelnden „Oma“ erzählt, die einen neben ihr sitzenden „jungen Mann“ vollquatschte, der jedoch wegen eines Walkmans davon nichts mitbekam.
Das war nun keine Bearbeitung einer Beschwerde aus der Bevölkerung mehr, sondern eine schlichtweg erfundene Bärchen- eigene launige Beobachtung. Und statt abschließend wenigstens dazu öffentlich Abhilfe zu fordern (z.B. keine Walkmans mehr in der Straßenbahn), schrieb Bärchen: „...sollte sich die alte Dame (demnächst) neben eine Person mit ,offenen Ohren‘ setzen“. In anderen Worten, da niemand mehr, der real existiert, mit dieser Kolumne angesprochen wurde, schon gar nicht „die alte Dame“: Bärchen hat aufgehört, aktiv die Reibungsverluste im Zusammenleben zu minimieren, und damit hat es, das Bärchen, keinen Zweck mehr. Schade! Sehr schade! Helmut Höge
Wird fortgesetzt
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