■ Normalzeit: Ein Sozialschlag ins Spreewasser
Drei Tage lang „Sauftouren“ – als Dialog, mit Stabreim, im Dialekt und mit O-Tönen. In Ostberlin lasen junge westdeutsche social beat-Dichter. Als Faustregel gilt immer noch: Um Schreiben zu können, muß man gelesen haben, und um lesen zu können, muß man zu leben verstehen, sonst kommt man nur dahin, die abstrakten Forderungen seiner abstrakten Existenz endlos zu wiederholen!
So viel ist sicher: Die jungen Dichter haben alles gelesen – von Rimbaud und Kerouac über Bukowski und Borroughs bis zu Ploog und Stingl (die sogar höchstpersönlich vorlasen). Achternbusch war durch die Bayerin Dagi Bernhard (30) vertreten. Sie hat bereits drei Bücher über das Biertrinken und gleichzeitige Denken veröffentlicht. Und die letzten Worte ihres Großvaters waren: „Ich möchte mal wieder Bier trinken.“ (Zum Vergleich, die letzten Worte von Alexander Mitscherlich lauteten: „Ich möchte mal wieder Kartoffelchips essen.“) Die Bücher und Zeitschriften des social beat wurden tagsüber an Ständen auf dem Pfefferberg angeboten. Um zu dieser Minipressen-Messe, an der sich auch Anarcho-Verleger Kramer beteiligte, zu gelangen, mußte man vier uniformierte Wachschutz-Leute passieren, die jeden mit Metalldetektoren nach Waffen durchsuchten.
Das muß man sich mal vorstellen: Die subversivsten Vorzeigeverleger und schockierendsten dirty poets Deutschlands hatten Angst vor armierten Attentätern. Ein straßenbahnschaffnernder Schriftsteller aus Braunschweig sprach über „Girls“ und „Schenkel“, ein anderer Braunschweiger, Hardy Krüger, ließ uns tief in seine „Pimmel-Prosa“ eintauchen... Befürchtete man vielleicht einen lesbisch-feministischen Affront? Dabei hätten die militanten Szene-Eidechsen dem zweiten „Aktions-Event der Außerliterarischen Opposition“ wenigstens einen Hauch von Real-Auseinandersetzung serviert. Im Roten Salon der Volksbühne stand neben mir eine Leipziger Bürgerrechtlerin, die einem stasigeilen Kölner Journalisten stolz ihr 89er Coming-out erklärte: „Ja, wir hatten schon Angst. Aber uns ging es um eine bestimmte Öffentlichkeit. Und da mußte man schon Rückgrat zeigen.“ So schrecklich, wie sich das bei dieser mittlerweile aus Funk und Fernsehen bekannten Frau auch anhört, es sei hiermit allen Beat-Begeisterten fürs Poesiealbum anempfohlen: Trotz Angst muß Rückgrat signalisiert werden, sonst kommt man nicht in die Westmedien! Traurig, aber wahr.
Erwähnt sei in diesem Zusammenhang nur der Auftritt von Gilette-Goetz in Klagenfurt. Der ließ sich übrigens auf dem Ost-social-beat-Festival nicht blicken, er hockte die ganze Zeit in seinem Westberliner Lieblingslokal: beim Fastfood-Italiener hinter der Gloria-Passage. Dafür trat Hadayatullah Hübsch auf, ein ehemaliger FAZ-Journalist, dem man – vor 20 Jahren schon – mit der Begründung gekündigt hatte: Er stelle „im persönlichen Habitus und Umgang eine außergewöhnliche, jeglichen bürgerlichen Rahmen des Abendlandes sprengende Erscheinung“ dar. Der Frankfurter Dichter schloß sich daraufhin rahmenmäßig dem mohammedanischen Morgenland an. Seiner Poesie hat das jedoch nicht geschadet, allerdings auch nicht geholfen. Helmut Höge
Wird fortgesetzt
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