■ Normalzeit: Polonisierung und Brasilifizierung
Von einer Polonisierung Berlins sprechen die hiesigen Stadtplaner und meinen damit die derzeitige – im Gegensatz zur Verdienstleistungscenterisierung von oben – dräuend sich durchsetzende Ansiedlung kleiner Klitschen auf niedrigstem Lohnniveau – von unten, gleichsam gegen das Gesetz.
Die internationale Arbeitslosenforschung spricht dagegen von einer Brasilifizierung, und zwar dann, wenn die Mittelschicht aufgrund sich spreizender Löhne, Gehälter und Einkommen langsam einerseits in eine hochverdienende und in eine am Existenzminimum krepelnde Klasse andererseits zerbröselt wird.
Sichtbarstes Zeichen dieser Entwicklung sind die an Bedeutung zunehmenden Flohmärkte gleich neben den im Wachsen begriffenen Glasmarmorpalästen (für Regierung, Versicherung, Banken, Großkonzerne und Informationsmakler).
Den großen Flohmarkt am Potsdamer Platz ließ Heckelmann nach der Wende wegen der mit verbotenen Lebensmitteln handelnden Polen schließen. Der Iraker Achmed, ein Foto- und Armaturenhändler, der auf der anderen Seite des Platzes wohnte und dort in der Tiefgarage auch sein Lager hatte, gab daraufhin seinen Stand auf und zog nach Köln, wo sein Bruder lebt.
Der Flohmarkt „gehörte“ Michael Wewerka, der ein Kunsthandelskontor betreibt, ein Haus in Ostberlin und eins in Spanien besitzt und gerade der SPD Pankow beitrat. Wewerka schreibt außerdem gelegentlich Gedichte.
Nach der Räumung des Potsdamer-Platz-Flohmarktes blieb ihm noch der Antiquitätenmarkt an der Straße des 17. Juni, wo jedoch eher schon aufgestiegene Händler deutsche Aufsteiger übers Ohr zu hauen versuchen. Wewerka suchte deswegen monatelang nach einem neuen Flohmarkt-Platz, auch und gerade für polnische Händler. Aber der Senat wollte so etwas nicht, auch in den Bezirken interessierte sich niemand für seine Idee.
Derweil breitete sich im Wedding der Flohmarkt am Humboldthain, gleich neben dem gescheiterten Nixdorf-Dienstleistungscenter, aus. Bevor der dann von Heckelmann – ebenfalls wegen zu viel illegalen Handels – wieder geschlossen wurde, hatte Wewerka einen neuen Flohmarkt im Hof der Kulturbrauerei eröffnet. Dieser ist zwar noch klein und laut Betreiber „nach wie vor ein Zusatzgeschäft“, aber es gibt schon ein paar gute Buchverkäufer dort.
Fast zeitgleich eröffnete ein weiterer Flohmarkt in der Oranienburger Straße, neben dem Tacheles, angeblich von einigen ehemaligen Flohmarkthändlern aus dem Wedding. Dazu gehört auf alle Fälle ein Wachdienst mit Uniformandeutung. „Ich weiß auch nicht, wie die das geschafft haben, dort so etwas genehmigt zu bekommen“ wunderte sich Händler Wewerka.
Am interessantesten und sogar mit einem Kinderbetreuungsdienst ausgerüstet ist der ebenfalls schon einige Monate alte Flohmarkt an der Köpenicker Straße, der angeblich einem ehemaligen türkischen Flohmarkthändler „gehören“ soll.
Es gibt dort zum Beispiel einen Syrer, der Wolf- und Bären-Fallen verkauft. „Damit kannst du dich in Brandenburg selbständig machen, greif zu!“ riet mir der Händler am Nachbarstand, ein kurdischer Textilverkäufer. Ein türkischer Schuhputzer bietet an seinem kleinen metallglänzenden Putzstand Günter Wallraffs Buch „Ganz unten“ an.
Das und noch viel mehr Merkwürdigkeiten kennzeichnet diesen kleinen, aber feinen Flohmarkt schräg gegenüber vom besetzten Haus in der Köpenicker Straße, auf dem der Spruch „Die Grenze verläuft nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen oben und unten“ dransteht und das immer wieder gerne von der Polizei heimgesucht wird. Helmut Höge
wird fortgesetzt
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