■ Normalzeit: Transformationsforschungsneuigkeiten
Von der im Erdgeschoß einquartierten jugoslawischen Familie stellt gelegentlich jemand nachts den Cassettenrecorder laut und läßt Balkan-Pop über den Hinterhof jaulen. Sofort öffnen sich drei, vier Fenster und alles Deutsche brüllt „Ruhe!“, „Wir wollen schlafen“, „Ich rufe gleich die Polizei!“. Meistens hilft es. „Das ist der Stoff, aus dem Pogrome gemacht sind“, meint dazu mein Unteruntermieter Mildner milde.
Mein alter Freund Dieter dagegen, ein FU-Biologe, der 1979 mit einem Schiff namens „Tunix“ nach Djakarta aufbrach und dann dort hängenblieb, berichtet aus seinem Hinterhof-Soziotop Entgegengesetztes: Nachdem er sich einen Cassettenrecorder angeschafft hatte, beschwerten sich reihum die Nachbarn bei seiner Frau, daß das Gerät immer so leise gestellt war. Ob ihr Mann etwa nur für sich alleine Musik hören wolle, wurde sie gehässig gefragt.
Auch ein und derselbe Ton kann mitunter völlig unterschiedlich aufgenommen werden: Neulich fuhren wir mit drei holländischen Linken durch Kreuzberg, wobei wir ihnen euphorisch alles, was wir wußten, über die türkische Szene dort erzählten. Anschließend fragten sie uns: „Und was ist daran so schlimm?“ Sie hatten unsere begeisterten Geschichten anscheinend als verquetschte Rechtfertigung der antitürkischen Attentate von Mölln, Bielefeld etc. verstanden.
In Emden erzählte uns eine Frau, daß sie – gewohnt an rotgeschalteten Ampeln anzuhalten – in Dakar damit permanent den Verkehr durcheinandergebracht habe. Einmal sei ihr sogar ein Auto mit Karacho hinten raufgefahren: „Der Fahrer stieg aus und sagte zu mir nur: ,Sorry, no brakes!‘“
Neulich besuchte eine Gruppe arbeitsloser Akademikerinnen aus Moskau auf Einladung des Ost-West-Europäischen Frauennetzwerkes (OWEN) Berlin, um sich von den hiesigen Frauenprojekten Ideen zu holen. U. a. trafen sie sich auch mit der Gruppe „Emigranten für Emigranten“, in der sich Frauen aus Polen, China, Persien und Mexiko bei Weiterbildung und Existenzgründungen helfen. Sie konnten es gar nicht verstehen, daß die Russinnen nicht in Berlin bleiben wollten. Die OWEN-Mitarbeiterin Tinatin, eine georgische Schwermaschinenbauingenieurin, erklärte mir dazu, daß Deutschland insbesondere für Leute aus dem Ostblock ein ideales Auswanderungsland ist, weil hier alles so durchgeregelt ist – „das hilft am Anfang sehr, auch und gerade, wenn man etwas anders machen will, als es vorgesehen ist. Die fehlende Willkür ist für viele Ausländer erst einmal eine Erholung.“ So habe ich das noch nie gesehen! Einiges ist aber auch nur verschoben: So hat Tinatin als Schulkind in Suchumi z. B. immer dann Geld von ihrer Mutter bekommen, wenn mal wieder der Großvater oder die Großmutter einer Klassenkameradin gestorben war und eine große georgische Beerdigungsfeier anstand. Ihr Taschengeldsystem flog eines Tages jedoch auf, weil sie die Großeltern ihrer Mitschüler zu wahllos hatte sterben lassen und kurz hintereinander den Tod ein und derselben Oma verkündet hatte.
Heute kommen hier ihre eigenen Kinder auch immer mal wieder an und bitten um Geld, das sie jedoch zum Kauf eines Geburtstagsgeschenks für einen ihrer Mitschüler benötigen. Zwar zückt Tinatin stets ihre Börse, sie ist sich aber nicht sicher, ob von dem Geld wirklich immer Geburtstagsgeschenke gekauft werden. Manchmal ist auch das Identische genau das Richtige: Ein junges Pärchen aus Perm setzt sich, z. B. immer wenn sie Heimweh haben, nachts in ein beleuchtetes Buswartehäuschen in Kreuzberg und trinkt gemeinsam eine Flasche Wodka und eine Flasche Orangensaft aus: „Das haben wir auch im Ural immer so gemacht!“ Neuerdings leistet ihnen dabei oft ein Pärchen aus Büsum Gesellschaft: „Auch die haben früher in ihrer Freizeit meist in Buswartehäuschen rumgehangen. Wir sind schon mehrmals mit denen zusammen durch die Mark Brandenburg gefahren: Was es da in den Dörfern für irre neue Buswartehäuschen gibt, dagegen sind unsere im Ural richtig schrottig, aber auch die in Schleswig-Holstein.“
Mitunter hilft auch das Glück beim Verständlichwerden der Fremde: Ich fuhr mit einer Thailänderin zu einigen Rummelplätzen in und um Berlin, die sie aus beruflichen Gründen interessierten, aber alle hatten geschlossen – es war Karfreitag. „Ein bedeutender Feiertag“, versuchte ich ihr zu erklären. Sie verstand nicht, wurde immer muffeliger. Mit Beginn der Dunkelheit wurden in den Dörfern überall Osterfeuer angezündet. Da freute sie sich und begriff endlich: „Firetag!“ – Na klar. Helmut Höge
wird fortgesetzt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen