■ Normalzeit: Wenn die Dschunken Trauer tragen
Bereits auf der Berlinale deutete sich der Themenwechsel an – weg vom Beziehungskuddelmuddel und hin zu Existenzproblemen. Dennoch dominierten dort noch die Psycho-Dialoge: Den Russen ging es primär um den „Sinn des Lebens“ – wobei sie nicht mal vor Abstechern in Sekten und Kirchen zurückscheuten. Das asiatische Kino bearbeitete durchgehend die neuen Leiden des jungen Wang: Einsamkeit, Paranoia, Psychosen – die ganze Palette der Zerstörung familialer Gewißheiten. Aber schon die französischen Liebesfilme kamen nicht mehr ohne „Arbeitslosigkeit“ und „Klassenkampf“-Anspielungen in Schwung. Erst recht nicht die deutschen Langzeit-Dokumentarfilme – von Barbara und Winfried Junge über „Die Kinder aus Golzow“ und wie sie sich nach der Wende durchs Leben wurschteln; von Regine Kühn und Eduard Schreiber über den Abzug einer GUS-Hubschrauberstaffel aus Jüterbog und was dann mit ihnen geschah; sowie Kerstin Stutterheims und Niels Bolbrinkers Spurensicherung bei der Filmfabrik Wolfen, zu dessen Premiere der Orwo- Betriebsrat Interviews gab, die wiederum die Geschäftsführung und Stadtverwaltung in Wolfen zu geharnischten Gegenerklärungen veranlaßten.
Nur drei Filme wurden aus Afrika eingereicht, 190 dagegen aus den USA. Aber auch in Afrika ist man zunehmend der amerikanischen „Basic Action“ um Eifersucht, Cabriolets und Koffern voller Dollars überdrüssig, so daß etwa in Ghana schnellgedrehte Videospielfilme, die z. B. männliches Mobbing von Sekretärinnen auf beruflicher Erfolgssuche in der Hauptstadt thematisieren, ein großes Publikum finden. Eine Auswahl davon lief gerade im KOB. Auch auf der anderen Seite – beim gerade beendeten EthnoFilmFestival im Berliner Museum für Völkerkunde – ging es mehrfach um Arbeitsprobleme: im finnischen Film „House of Full Service“ z. B. Vollends in die Existenzgründung verlagert hat sich die „Handlung“ beim neuen Kaurismäki-Film „Wolken ziehen vorbei“: Zwei Arbeitslose eröffnen ein Restaurant mit dem sinnigen Namen „Zur Arbeit“ – und man bangt mit ihnen, ob sie es schaffen, genügend zahlungskräftige Kunden in ihr Lokal zu ziehen.
Uns fesselt ein ökonomisches Drama deswegen zunehmend mehr als ein psychologischer Plot, weil die ganz normale „Existenzbedrohung“ durch Lohndumping, Unternehmerwillkür, Abwicklung und Entlassung bereits eine kritische Masse erreicht hat. Mindestens einmal am Tag sitzt man irgendwo in einer Pizzeria, in einem Döner-Imbiß oder einer Kneipe und fragt sich: Wird es den Besitzern gelingen, da mehr als die Ladenmiete herauszuwirtschaften? Auch Kinobetreibern attestiert man zunehmend Waghalsigkeit. Wo selbst hochetablierte und -alimentierte Kultureinrichtungen behaupten: Wir müssen uns jetzt finanziell etwas einfallen lassen! Und sogar auf Ewigkeit programmierte Konzerne – wie AEG, KHD, Brau und Brunnen – sich auf Kleinbetriebsgrößen „gesundschrumpfen“.
Es ist nicht die Ratlosigkeit, die endemisch geworden ist – das war sie zu Rezessionszeiten immer, sondern das Zerbröseln des Politischen, Allgemeinen und Gesellschaftlichen, was einem Hoffnung, Optimismus und Kraft nur mehr aus dem Singulären ziehen läßt. Ein neuer Existenzialismus macht sich da breit, der diesmal kein kunstphilosophisches Phänomen ist („Je ne regrette rien“), sondern eher ein neuer Breitensport: „Die ontologische Revolution des Existenzbegriffs gipfelt in der Gleichsetzung von Wahrheit und Gegenwart“ – Heinz Bude. Helmut Höge
wird fortgesetzt
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