■ Normalzeit: „Mülheim–Prenzlauer Berg“-Geheimnis
Mit diesem reinen Gerücht wurde seinerzeit in Mülheim die Haltung zur Roten Ruhrarmee entscheidend verändert. Oder, anders angefangen: Soeben versprach der Zuarbeiter von CDU- Landowsky, den „Prater“ in der Kastanienallee endlich einem privaten Immobilienentwickler zuzuführen: Ein typischer Fall von versuchter Turbo-Gentryfication: Wegen Geldmangels fällt das Freilufttheater-Biergarten- Kombiobjekt zunächst aus der bezirklichen Betreibung, die 1996 schließlich provisorisch über die politisch mißliebige Volksbühne auf mehrere auch nicht gerade beliebte Prenzlauer-Berg-Basis- Initiativen abgeladen wird. Und die machen das dann so erfolgreich – z.B. mit dem „Sklaven- Markt“ und Krauses Kunst-Disco –, daß das Objekt sofort für Investoren interessant wird. Krause von der Galerie „O2“ bleibt jedoch gelassen: „Die kriegen uns hier nicht so leicht wieder weg!“
Was macht die Attraktivität dieses Standorts – neben seiner „Volxverwaltung“ – aus? Nehmen wir nur den Ton-Dia-Vortrag „Mülheimer Jugend“, der jüngst im Prater Premiere hatte: In keiner privatentwickelten Konzept-Gastronomie-Filiale der Welt hätte so etwas jemals stattfinden können. Statt mit dümmlicher ausbeuterischer Freundlichkeit (à la „Planet Hollywood“) wurde man schon vorab kalt, aber kostenlos mit einem Stadtplan Mülheims sowie einer Graphik „Kommunalverband Ruhrgebiet“ auf das Thema eingestimmt, wozu es dann in der Ankündigung hieß: „Zwischen den bitteren Erkenntnissen ,Mülheim ist nicht korrigierbar‘ und ,Mülheim ist überall‘ versuchen Andreas Hansen und Cornelia Köster einen Weg zum Verständnis der ,sympathischen Stadt an der Ruhr‘ zu finden. Ihrer mißlichen Herkunft bewußt, wollen die beiden Ruhrgebietszöglinge den Prenzlauer-Berg-Bewohnern davon Mitteilung machen, was der Ort ihrer Kindheit in ihnen angerichtet hat und daß man ihn gleichwohl überleben kann. Nachdem die beiden westdeutschen Zuträger des BasisDruckErzeugnisses Sklaven sich kürzlich im Prater über den Weg liefen und ihre gemeinsame Leidensgeschichte erkannten, reifte der Entschluß, sich der Vergangenheit zu stellen.“ Das gelang den beiden auch, obwohl sie aus derselben Stadt stammen wie Tengelmann, Aldi, die Hugo Stinnes AG und Wim Thoelke. Darüber hinaus war Mülheim nach dem Ersten Weltkrieg auch einmal das „Synonym für Linksradikalismus“. Noch 1968 erreichte man dort mit massiven Sitzblockaden – gegen die Straßenbahnpreiserhöhungen von 1967, daß das Rauchverbot auf den Pausenhöfen der städtischen Gymnasien 1969 aufgehoben wurde.
Die beiden Mülheimer Autoren scheuten schließlich auch vor rein philosophischen Gymnasial- Verallgemeinerungen nicht zurück: „Diejenigen, die spät scheitern, lernen, daß das System zu bezwingen ist, jedoch nicht von ihnen.“ Insofern behält das, was Brecht über das einst vom Kohlenhandel dominierte Mülheim schrieb, auch über seine postindustrielle Transformationsperiode hinaus Gültigkeit: Es herrscht dort eine „gespannte Atmosphäre“. Mehr kann man von einer Stadt vielleicht gar nicht verlangen, auch nicht vom „Prenzlauer Berg“ und seinem komisch- umkämpften „Prater“, wo jetzt – gerade rechtzeitig zu Beginn der kühleren Jahreszeit – eine unter Denkmalschutz gestellte Großraumgaststätte wiedereröffnet wurde. Helmut Höge
wird fortgesetzt
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