■ Normalzeit: Unkraut-Ex-Brigaden
Die Focus-Redaktion trieb unlängst den „Alarmismus“ mit einer Titelgeschichte voran: „Service-Wüste Deutschland! Der Kunde verdurstet, der Umsatz trocknet aus“. Dem Cover- Graphiker fiel dazu nur eine Sahara-Düne ein – mit einem traurigen Mann, der einen leeren Einkaufswagen vor sich herschiebt. Auch die Wirtschaftswoche faselte von „Servicewüste“.
Das muß man sich mal konkret vorstellen – in einem Land, in dem Überversorgung bis zum Stehkragen herrscht. In einem Land, in dem neue Verkaufsmöglichkeiten und Märkte nur mit Gewalt und Gaunerei aufgerissen werden können: meist nur noch auf dem vielbeschworenen „Dienstleistungssektor“, auf dem beispielsweise in Manila die Hamburger-Ketten „Home-Delivery“ anbieten und bunte, arbeitslose Moped- Gangs anstellen, die nach Leistung bezahlt werden, also den ganzen Tag vor der Tür herumlungern und junge Kundinnen vergraulen. Oder man erfindet in Anlehung an die New Yorker Kurierdienste den Service des „Hochhaus-Büroboten“ neu: als leistungsentlohnten „Walker“, ohne daß es bisher eine nennenswerte Zahl Hochhäuser dafür gäbe. So sitzen die „Walker“ dann auf dem Ku'damm herum und geben Geld aus, statt welches zu verdienen.
Aber hier und jetzt kommt alles noch viel schlimmer: Seitdem Bonn im Osten das Hildebrandtsche Brückentheorem zum Gesetz erhoben hat (ABM sei eine Brücke vom zweiten zum ersten Arbeitsmarkt) und deswegen mit Ende des Jahres Zehntausende von ABM-Stellen gestrichen werden, weil sich die Beschäftigten bis dahin in eigenen Firmen „ausgegründet“ haben, ist ein regelrechtes „Dienstleistungs“-Fieber ausgebrochen. Wildfremde Menschen stapfen durch die kleinsten Vorgärten und rupfen die von den Hausbewohnern angepflanzten Kräuter als „Unkraut“ aus.
Die Hausbesitzer und Wohnungsbaugenossenschaften haben sie als ABM-Kräfte einer Beschäftigungsgesellschaft „auf Probe“ losgeschickt: Sie sollen versuchen, sich mit der Dienstleistung „Vorgartenpflege“, die bisher kostenlos von den Mietern erledigt wurde, selbständig zu machen. Geleitet werden die Unkraut-Ex-Brigaden zumeist von Exwissenschaftlern oder Exchefingenieuren. Hier und da haben sie schon die ersten Hinterhofanlagen erobert. Die Hausverwaltungen machen dabei gute Miene zum bösen Spiel – und versuchen, die zukünftigen Dienstleistungskosten auf die Mieter umzulegen.
In Oberschöneweide kämpfen einige Mieter bereits gegen diesen Unsinn. „Zwei Tage haben vier Leute für unsere zwei Beete, so groß wie Scheißhäuser, gebraucht – und dabei die Hälfte unserer Nutzpflanzen ausgerissen. Wenn die Hausverwaltung das auf die Miete umlegt, gibt es Krieg!“ droht ein Mieter, der anonym bleiben möchte.
Wo keine Gärten sind, wird die Straße verdienstleistert: Man stellt Solarparkuhren auf, und eine Beschäftigungsgesellschaft stellt dazu der Parkraumbewirtschaftungsfirma die ABM-Kräfte zum Aufschreiben der Parksünder zur Verfügung. Diese werden später von der Firma übernommen. Je mehr Dauerarbeitsplätze, desto mehr Lebensqualität! Während hier dieser Dienstleistungswahn blüht, diskutiert man in Dessau und in der Prignitz – ebenfalls unter dem Stichwort „Lebensqualität“ – die ganz andere Dienstleistungsmöglichkeit: Einen geringer werdenden (Tauschwert-)Lohn durch mehr (Gebrauchswert-)Zeit – zum Beispiel für den eigenen Garten, den Hausbau, die Nebenerwerbslandwirtschaft – auszugleichen. Helmut Höge
wird fortgesetzt
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